Richter: Nur Volk soll Verfassung ändern

GRUNDGESETZ Verfassungsrichter wollen, dass Änderungen per Volksentscheid bestätigt werden

FREIBURG taz | Jede Änderung des Grundgesetzes soll künftig durch eine Volksabstimmung bestätigt werden. Dies schlug Verfassungsrichter Johannes Masing in Freiburg bei einer Feier zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes vor. „Wir sollten zumindest die Entscheidungen über die politischen Rahmenbedingungen in die Hand des Volkes legen.“ Auch Andreas Voßkuhle, der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, unterstützte den Vorschlag.

Als Beispiel nannte Masing, der seit 2008 Verfassungsrichter ist, die jüngst im Grundgesetz eingeführte „Schuldenbremse, die das Schuldenmachen sicher nicht bremsen wird“. Sie sieht ab 2016 eine (durch viele Ausnahmen gemilderte) Pflicht zu ausgeglichenen Bundeshaushalten vor. Masing bezweifelte, ob es für diese Grundgesetzänderung eine Mehrheit bei einer Volksabstimmung gegeben hätte. Auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, der von 1983 bis 1995 Verfassungsrichter war, unterstützte bei der Veranstaltung den Vorschlag. Es werde dann wohl deutlich weniger Verfassungsänderungen geben. Seit 1949 war das Grundgesetz 56-mal geändert worden.

Bisher sind Plebiszite nur auf Landesebene vorgesehen. Auf Bundesebene fordern SPD und Grüne schon seit langem die Einführung von Volksabstimmungen, doch die CDU lehnt eine entsprechende Grundgesetzänderung ab. Auch die Verfassungsrichter sind nicht viel mutiger. Bei Volksabstimmungen über Gesetze mahnte Masing sogar zur „Vorsicht“, weil dies die Diskussionen wohl „nicht rationaler“ werden lasse. Von Volksinitiativen von unten war in Freiburg nicht einmal die Rede.

Wenn aber Verfassungsänderungen durch Plebiszite erschwert würden, dürfte wohl vor allem das Bundesverfassungsgericht profitieren und die immer wieder erforderliche Anpassung des Grundgesetzes in die eigene Hand nehmen. Schon bisher erfanden die Richter bei Bedarf Grundrechte und andere Verfassungsvorgaben einfach selbst. Bekannteste Beispiele sind das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Für Diskussionen sorgte bei der Grundgesetz-Feier natürlich auch das letzte Woche ergangene Karlsruher Urteil über den Lissabon-Vertrag, der die EU effizienter machen soll. Karlsruhe hatte den Vertrag gebilligt, für den späteren Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat allerdings eine neue deutsche Verfassung verlangt. „Da ist die Tür ja fast zugeschlossen worden“, kritisierte Exrichter Böckenförde, „wenn zuvor die Aufgabe des Grundgesetzes verlangt wird.“

Andreas Voßkuhle, dessen Senat das Lissabon-Urteil verfasst hat, saß kopfschüttelnd daneben und stellte dann klar: „Die neue Verfassung muss dem Grundgesetz nicht unähnlich sein, es kann genügen, dass nur zwei Artikel geändert werden.“ Entscheidend sei, dass der qualitative Schritt zu einem europäischen Staat als solcher „kenntlich gemacht“ wird und das Volk darüber entscheidet. CHRISTIAN RATH