Dekadenz aus Bakelit

In Tom Kalins Spielfilm „Wilde Unschuld“ zerbricht die Familie Baekeland an den Folgen des Reichtums

Es geschieht selten, dass ein Produkt im alltäglichen Gebrauch auch den Namen des Erfinders trägt. Dem Physiker Wilhelm Konrad Röntgen wurde diese Ehre zuteil, und dem Drucker Ernst Litfaß, dessen Säulen die Reklame auf die Straßen brachten. Und dann ist da noch das Plastik. Nein, es gab natürlich keinen geheimnisvollen Dr. Plastik, aber zuerst gab es nur das Bakelit, das die Vorform all dieser Kunststoffe war. 1907 wurde diese Verbindung aus Phenol und Formaldehyd von dem in die USA ausgewanderten Belgier Leo Hendrik Baekeland erfunden, und seine Firma hatte mit der Herstellung von Alltagsgegenständen wie Telefonen, Lichtschaltern, Büroartikeln und Modeschmuck riesigen Erfolg, sodass seine Familie in den 30er Jahren zum internationalen Set der Superreichen zählte. Sein Sohn Brooks Baekeland heiratete in den 40er Jahren mit Barbara Daly eine der attraktivsten Frauen der New Yorker Gesellschaft, und nach der Geburt des Sohnes Tony wurde deren Familiengeschichte immer dekadenter und bizarrer, bis sie in einen der blutigen Skandal.

Sie heiratete wegen seines Geldes, er wegen ihrer Schönheit - man kennt solche Mesalliancen, die in diesem Falle aber monströse Züge annahm, weil die Familie so reich war, dass sie keinerlei Rücksicht auf gesellschaftliche Normennehmen musste. Andererseits versuchte die neureiche Barbara immer wieder, mit Posen ihre Position in der feinen Gesellschaft zu stärken. Das Ergebnis waren peinliche Auftritte zuhauf und eine verkorkste Kindheit des Sohnes Tony, der in diesen pathologischen Familienverhältnissen wohl nie die Chance einer auch nur halbwegs normalen Entwicklung bekam. So spannte ihm der eigene Vater die Freundin aus, und bei seinen ersten homosexuellen Erfahrungen stieg die Mutter gleich mit ins Bett zu ihm und seinem Freund. Daraus entwickelte sich langsam eine inzestuöse Beziehung, die schließlich in einer Bluttat endete.

Diese wahre Geschichte einer Dynastie, gegen die der Künstlerclan der Manns wie ein Häuflein von braven deutsche Kleinbürgern wirkt, wurde von Natalie Robins und Steven Aronson in dem Tatsachenbuch „Savage Grace“ erzählt, und der Regisseur Tom Kalin inszenierte einige Schlüsselszenen daraus. Aber diese im Grunde antidramatische Erzählweise schadet dem Film mehr als sie nutzt. Da wird über vier Jahrzehnte hinweg von einem mondänen Schauplatz zum nächsten gesprungen, und in New York, Paris, Mallorca oder London sieht man dann die Familienmitglieder jeweils in einer hochtheatralischen Situation, die den Prozess der dekadenten Zersetzung jeweils auf den Punkt bringen soll. In einem Interview erzählt Kalin, er habe dabei oft Fotos von den realen Baekelands nachinszeniert, und genauso künstlich und gestellt wirken sie dann leider auch. So bleibt man immer draußen und beobachtet höchstens mit einer Mischung aus Faszination und Ekel, wie diese drei merkwürdigen Wesen sich gegenseitig zerstören. Kalin hatte in seinem Debütfilm „Swoon“ stilistisch ganz ähnlich von den berühmten homosexuellen Mördern Leopold und Loeb erzählt, deren Verbrechen übrigens Hitchcock zu seinem Film „Rope“ inspirierte. Aber dort funktionierte diese distanziert, kalte Perspektive, während sie hier bemüht und unabgemessen wirkt. Daran kann auch Julianne Moore nichts ändern, die mit Barbara Baekeland wieder eines von diesen neurotischen Nervenbündeln gibt und deren dünnlippiges Lächeln inzwischen zu den gruseligsten Effekten des zeitgenössischen Kinos zählt.

Wilfried Hippen