Wo sich die Bilder überlagern

ELBPHILHARMONIE Wo demnächst elitäre Konzerte spielen, hat der Lagerarbeiter Günter Dörscher in den 60ern Kakao- und Kaffeesäcke zu Tausenden auf Paletten geworfen. Der Hamburger Kaispeicher A, heute Sockel des spektakulären künftigen Konzerthauses, war einst ein Kakaospeicher

■ Konzipiert wurde der als „Parasit“ auf dem Kaispeicher A sitzende gläserne Konzertsaal von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron

■ Geplant sind zwei Konzertsäle à 2.150 bzw. 550 Plätze

■ Der Sockel (Kaispeicher A), wird Parkhaus und Backstage-Bereich bergen

■ Die öffentlichen Kosten liegen bei inzwischen 323 Millionen Euro

■ Intendant ist Christoph Lieben-Seutter, der zuvor das Wiener Konzerthaus leitete

■ Programmatisch ist eine Mixtur aus Klassik, Jazz und Weltmusik geplant

■ Eröffnungskonzert soll im Mai 2012 sein

VON PETRA SCHELLEN

Damals war dieser Bau der letzte Schrei. Der Höhepunkt moderner Industriearchitektur – asketisch, puristisch, ganz im Geist der 60er Jahre. Dass kurz nach Fertigstellung des Kaispeichers A im Hamburger Hafen die Container aufkamen und Speichergebäude für die Lagerung von Paletten nicht mehr nötig waren – vielleicht hätte man es ahnen können.

Ein bisschen nutzlos war der Bau also schon zur Eröffnung 1965. Und trotzdem: Etliche Hamburger waren stolz auf den trapezförmigen Bau, sind es noch heute. Jedenfalls insofern, als das von Werner Kallmorgen entworfene Gebäude als Sockel der voraussichtlich 2012 eröffnenden Elbphilharmonie dienen darf. Eine hauchdünne Fassade des ansonsten komplett umgebauten Gebäudes bleibt sogar stehen; Denkmalschutz à la Potemkin.

Als Denkmal im Sinne eines Erinnerungs-Speichers eignet sich der Backstein-Bau allerdings schon jetzt nicht mehr: Der Speicher wurde entkernt, die Zwischenwände der Böden entfernt. An ihrer statt windet sich eine Parkhausspindel nach oben. In anderen Worten: Man erkennt den Speicher nicht wieder. Allenfalls mit Hilfe alter Fotos oder der eigenen Imagination lässt sich rekonstruieren, was einst war. Auch Günter Dörscher, ehemaliger Lagerarbeiter im Kaispeicher A, verirrt sich hier immer wieder, wenn man mit ihm über die Baustelle schlendert.

Diese Verwirrung ist nicht Dörschers Gedächtnis geschuldet, sondern den massiven Veränderungen: Sogar die Stockwerk-Einteilung hat sich verschoben; zudem gerät Dörscher beim Erinnern immer wieder der Vorgängerbau – der 1963 abgerissene Kaiserspeicher – in die Quere. Dass der aktuelle Baulärm manchmal das Erzählen übertönt, ist ein schönes akustisches Pendant.

Wehmütig allerdings ist Dörscher nicht, wenn er sich an seine Anfänge 1956 bei der Hamburger Hafen und Logistik AG erinnert. Weder Stolz noch Bedauern schwingen mit, wenn er von Zeiten und Räumen spricht, die nicht mehr sind. Vielleicht verbirgt er seine Emotionen, vielleicht ist es der schnörkellose Umgangston, der damals unter den Kollegen üblich war. Deren Arbeit war hart: „167-mal mussten wir ins Schiff, um Säcke mit Kakao und Kaffee rauszuholen und auf Paletten zu schmeißen. Da hieß es, ihr müsst 2.000 Sack abladen, dann habt ihr Feierabend. Das sind pro Schicht 140 Tonnen“, rechnet Dörscher vor. „Da war es wichtig, dass man mit einem zusammenarbeitete, von dem man wusste, der fasst die Säcke genauso an wie ich.“ Zumal die Säcke korrekt gestapelt werden mussten. „Stellen Sie sich vor, so eine Palette mit Säcken fällt um – dann ist der ganze Löschvorgang zu Ende!“

Natürlich wurde all dies kontrolliert – von Vertretern der Kaufleute, denen die Ware gehörte. „Die begutachteten Lagerung und Zustand der Ware.“ Da musste Kaffee, wenn er mit Schweiß von den Schiffswänden ankam, schon mal gereinigt werden, damit er abgenommen wurde. Und natürlich durfte Kaffee nie, niemals mit Kakao zusammen gelagert werden. „Kaffee ist sehr geruchsempfindlich“, sagt Dörscher. „Und Kakao gibt einen scharfen, säuerlichen Geruch ab. Die Säure war so stark, dass sie den Kalk regelrecht von den Wänden fraß.“

Der Kalkfraß ist inzwischen beseitigt, aber ein Geruchsproblem hat der Kaispeicher A noch immer: In speziellen Mess-Stationen wird derzeit ermittelt, wie stark die Kakao-Ausdünstungen immer noch sind und ob die Wände weiter abgedichtet werden müssen. Denn niemand will dereinst im Konzertsaal Saures riechen – und sei es Kakao von früher. So viel Historie möchte man doch nicht in dem hoch aufragenden Bau, dessen Vergangenheit so bodenständig ist und dessen Zukunft so elitär.

Vom Areal konkreten Arbeitens haben sich der Speicher und die Hafencity inzwischen ohnehin zu einem Ort simulierten Hafenflairs entwickelt. Und vielleicht ist die Versuchung deshalb so groß, Hafenarbeit der Vergangenheit allzu romantisch zu finden – etwa, wenn Dörscher erzählt, dass er die aus Afrika kommende Kakao- und Kaffeesäcke gleich wieder auf Schiffe gen Skandinavien umlud. Dass Hamburg schon damals Drehkreuz war und die Arbeiter ganz nah dran, denkt man ehrfürchtig – und schämt sich sofort dafür.

Auch Dörschers Zeit als Nachtwächter bei der HHLA – zeitlich zu verorten vor der Lagerarbeiter-Zeit – klingt nach einem schaurig-schönen Idyll, das an die historischen Krimis von Boris Meyn erinnert. „In den Fünfzigern hatte die HHLA 160 Nachtwächter; später wurden die reduziert und mit Fahrzeugen und Funkgeräten ausgestattet. Da hatten wir die Schuppen zu kontrollieren. Wir mussten gucken, ob deren Luken geschlossen waren, ob es keine Einbrüche gab“, sagt Dörscher.

Außerdem mussten die Wachleute Schiffe einweisen, und das waren viele. „Die meisten Schiffe kamen nachts, um die teuren Liegezeiten kurz zu halten“, sagt Dörscher. „Da meldet mir der Wachdienstleiter dann über Funk, dass die ‚Ludwigsburg‘ jetzt bei Stade wäre. Das hieß, in zwei Stunden würde sie in Hamburg sein. „Du bist doch grad in der Gegend, guck doch mal, ob der Liegeplatz am Schuppen 77b frei ist“, hieß es dann. Wenn ja – gut. Dann musste man nur noch an den Kai und warten, bis das Schiff da war. Dann kam die Millimeterarbeit. Ich habe dem Lotsen gesagt, wie er rangieren musste. Der sagte: ‚Ich geh nicht weiter in die Ecke‘, und ich: ‚Du musst noch fünf Meter weiter, da kommt heute nacht noch die ‚Hanseatic‘ dazwischen‘.“

Manchmal war der vorgesehene Platz allerdings besetzt, weil irgendwer eine Schute dort hingelegt hatte. „Die durften da eigentlich erst ran, wenn die Schiffe alle da waren“, sagt Dörscher. „Und wenn ich dann sah, das ist eine Schute von dem und dem, habe ich mit denen telefoniert: ,Die Schute muss da weg, das Schiff ist gleich da‘.“

Das klingt spannend, aber sehr vergnüglich waren diese Dienste nicht. Eher verantwortungsvoll und angespannt. „Ja“, sagt Dörscher. „Das Geld stimmte; die Schichtwechsel wurden gut bezahlt. Aber ich war nur alle sieben Wochen sonntags zu Hause. Und als meine Tochter zur Schule kam, habe ich mich nach was Regelmäßigerem umgesehen. Ich kam dann in die Lagerei – am Kaispeicher A eben.“

Auch dort blieb Dörscher nicht ewig. „Irgendwann wollte ich diese Knochenarbeit nicht mehr. Da bin ich dann die letzten Jahre aufs Büro gegangen, für dasselbe Geld wie mein früherer Vorgesetzter, der Lademeister.“ Und mit 56, da war sein Rücken so kaputt, dass ihn der Arzt nicht mehr gesundschreiben wollte.

Seither ist Dörscher Rentner. Ob er die exklusive Architektur der künftigen Elbphilharmonie mag, ist nicht aus ihm herauszubringen. Musik liebt er, das steht fest; einmal wöchentlich singt er im HHLA-Shanty-Chor. Vielleicht, sagt er, könnten sie ja mal auf der Baustelle singen. Ob er und seine Frau sich aber dereinst die Eintrittskarten für die Elbphilharmonie werden leisten können – er bezweifelt es. Vielleicht sollte der Elbphilharmonie-Intendant einen Sondertarif für ehemalige Kaispeicher-Arbeiter ersinnen. Schließlich sind sie Teil seiner Geschichte.