Wahlverdrossenheit: Arme wählen weniger

In den "sozialen Brennpunkten" gingen bei der Bundestagswahl nur 50 Prozent zur Urne. Volksvertreter repräsentieren vor allem die Reichen und die Gebildeten.

In armen Stadtteilen wie Bremen-Tenever wird wenig gewählt Bild: Jan Zier

Wer war die stärkste Partei bei den letzten Bundestagswahlen? Die Frage ist falsch gestellt. In Großstädten wie Hamburg oder Bremen war die Gruppe der Nichtwähler größer als die Zahl der Zweitstimmen, die "große" Parteien wie CDU und SPD erhielten. Eine Wahlbeteiligung bei 70 Prozent bedeutet: Die Parteien "repräsentieren" etwa ein Drittel weniger Menschen als ihre Prozent-Ergebnisse suggerieren. Die Arbeitnehmerkammer Bremen hat nun genauer nachgefragt, wer zur Wahl geht. Das Ergebnis: In "reichen" Wohngegenden, in den FDP- und CDU-Hochburgen, lag die Wahlbeteiligung bei über 80 Prozent. Bei der "Willy-Wahl" 1972 war auch die Wahlbeteiligung in den Wohnbezirken der sozial Schwachen so hoch - sie sackte bis 2009 kontinuierlich auf 50 Prozent ab. "Wir haben ein Problem mit der repräsentativen Demokratie", so kommentiert der Geschäftsführer der Arbeitnehmerkammer, Hans Endl, diese Zahlen.

Für das Statistische Landesamt Bremen hat Karl Schlichting seit Jahren die Stadt in "Gebietstypen" eingeteilt. Nun ist er Wahlleiter und kann in einer Wahlanalyse der Stadtgebiete sagen, welche sozialen Hintergründe ein bestimmtes Wahlverhalten hat. Wenn man die Stadtgebiete mit der geringsten Wahlbeteiligung rot einfärbt, hat man gleich auch die Karte für die Gebiete mit hohem Hartz-IV-Anteil. Im alten Arbeiterbezirk Gröpelingen und im Hochhausgebiet "Neue Vahr Nord" leben über 30 Prozent der Menschen von Sozialgeld, bei den Kindern sind es gar über 50 Prozent. Das sind die Gebiete mit der geringsten Wahlbeteiligung, dort hat die SPD seit 1980 die Hälfte ihrer Stimmen verloren. Die Linke hat davon nur geringfügig profitiert.

Gerade die, die ein starkes Motiv hätten, mit dem Wahlzettel eine Verbesserung ihrer Perspektiven einzufordern, haben offenbar resigniert. Das ist in der ganzen Republik so - in Großstädten wie Bremen oder Hamburg ist es besonders deutlich.

Mit Interviews und politikwissenschaftlichem Beistand hat die Arbeitnehmerkammer versucht, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Fazit: Die Betroffenen sehen sich von allen Parteien unisono als "Modernisierungs-Opfer" stigmatisiert. Für die SPD gilt das nicht jetzt erst, aber besonders seit Gerhard Schröder.

In Interviews der Broschüre über die "Wahlverdrossenheit" wird deutlich, dass nicht nur die eigene Interessenlage zur Begründung angeführt wird, sondern die Aussichtslosigkeit des gesamten sozialen Umfeldes. Diese Enttäuschung bezieht sich nicht auf eine bestimmte Partei. Einer der Interviewpartner hat seine Sicht über Demokratie so zusammengefasst: "Ich werde natürlich nicht zur Wahl gehen, definitiv. Weil ich mich nicht entscheiden könnte, ob ich ein rotes oder ein schwarzes Schwein wählen soll. Da oben dreht sich sowieso nichts."

Auch der Appell an die "demokratische Pflicht" läuft vollkommen ins Leere, weil es keine sozialen Netzwerke mehr gibt, die solche Werte transportieren. Es gibt heute nicht mehr die gewerkschaftlichen Strukturen in den "sozialen Brennpunkten", die früher meinungsprägend waren, erinnert sich Karl Schlichting an eigene Erfahrungen. Die Politik der Stadt, die die Hartz-IV-Empfänger zum Umzug in die "billigen" Wohnviertel drängt, um bei der Wohnungshilfe zu sparen, konzentriert diejenigen, die keine Perspektive haben, am selben Ort und zerreißt nachbarschaftliche Netzwerke, wenn sie denn vorher in anderen Stadtteilen vorhanden waren.

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