Bertini-Preis: Denn sie wollen wissen, was war …

Zum elften Mal wurde SchülerInnen, die sich "für ein solidarisches Zusammenleben in Hamburg engagieren", der Bertini-Preis verliehen. Unter den Preisträgern: Zwei Gymnasiasten, die ein Unterrichtskonzept entwickelten, in dessen Mittelpunkt die Berichte von Holocaust-Überlebenden stehen.

Florian Skupin (19) und Sebastian Richter (18) nehmen von Schriftsteller Ralph Giordano (85) den nach seinem Erfolgsroman benannten Bertini-Preis entgegen. Bild: ALI GEZGINOGLU

Ein wenig nervös wirken sie schon, als Ralph Giordano auf sie zusteuert, um ihnen die Preis-Urkunden und zwei Exemplare seines Bestsellers in die Hand zu drücken. Auf der großen Bühne des vollbesetzten Ernst-Deutsch-Theaters wirken Florian Skupin (19) und Sebastian Richter (18) etwas verloren und heute, wo der große, lang erwartete Tag endlich gekommen ist, auch ein wenig scheu. Unter anhaltendem Applaus werden sie mit dem Bertini-Preis ausgezeichnet - einer Ehrung, die jetzt zum elften Mal an junge Menschen verliehen wird, "die sich für ein solidarisches Zusammenleben in Hamburg einsetzen". Ausgezeichnet mit dem Preis, der nach Ralph Giordanos autobiographischem Roman "Die Bertinis" benannt ist, werden Hamburger SchülerInnen, die sich gegen "Ausgrenzung und Gewalt von Menschen gegen Menschen" engagieren oder die "Spuren vergangener Unmenschlichkeit sichtbar gemacht haben".

Auch Skupin und Richter haben sich auf Spurensuche begeben. Alljährlich am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus abgehalten, kürt die Preisverleihung diesmal ein Projekt, an dem die beiden Oberstufenschüler des Harburger Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums vier Jahre lang intensiv gearbeitet haben - "mit langem Atem", wie ihr Schulleiter Jürgen Marek nicht ohne Stolz betont.

Bereits als Neuntklässler nahmen sie an einer "Schülerfirma" des Gymnasiums teil - eine Unterrichtsform, in der die Lernenden gemeinsam eine Geschäftsidee nach betriebswirtschaftlichen Regeln entwickeln, herstellen und vermarkten. Die Schülerfirma hatte ein historisch bedeutsames Thema: Die Neuntklässler interviewten mehrere in Israel sesshaft gewordene jüdische Überlebende des Holocausts. Sieben Zeitzeugen-Berichte brachten sie gemeinsam mit den einst Verfolgten zu Papier. Als im vorvergangenen Jahr das Buch "Weitergelebt - 7 jüdische Schicksale im 2. Weltkrieg" erschien, war das der greifbare Lohn aller Mühen.

Doch Florian Skupin und Sebastian Richter ließen die Zeitzeugen-Berichte nicht ruhen. Um die Geschichten einer Vielzahl von SchülerInnen zugänglich zu machen, entwickelten sie ein auf der Anthologie fußendes, detailliertes Unterrichtskonzept für zehn Schulstunden und zeigten auf, wie die Schicksalsberichte in den Lehrplan der zehnten Klasse integriert werden können.

"Die Unterrichtsmaterialien zum Dritten Reich sind sehr faktenlastig. Doch wir Schüler beschäftigen uns intensiver mit einem Thema, wenn persönliche Erlebnisse vermittelt werden", weiß Florian Skupin aus eigener Erfahrung. So lasse sich die Vergangenheit an die Gegenwart heranrücken. "Vor diesem Projekt war die Zeit des Dritten Reiches für mich schon sehr weit weg - ein Thema der Geschichtsbücher", sagt auch Sebastian Richter. Durch die Begegnungen mit den Zeitzeugen aber habe die Geschichte für ihn "ein Gesicht bekommen". Nun wolle er mit der Unterrichtseinheit erreichen, "dass diese Zeitzeugen mehr Gehör finden".

Diese "besondere Lernleistung", brachte den beiden Gymnasiasten eine sehr gute Schulnote, den Bertini-Preis und vor allem die Anerkennung des Bertini-Preis-Namensgebers Ralph Giordano ein. "Wer diese Zeugnisse Überlebender des Holocausts liest und nicht weint, hat seine Gefühlsfähigkeit verloren. Mir liefen bei der Lektüre immer wieder kalte Schauer den Rücken herunter", würdigt der mittlerweile 85-Jährige die Berichte der Zeitzeugen.

Ein Schauer, den die Preisträger sich auch bei den SchülerInnen erhoffen, die in Zukunft an der Unterrichtseinheit teilnehmen werden. "In der zehnten Klasse sind Jugendliche in der politischen Prägungsphase", sagt Sebastian Richter. Da könnten solche Lerninhalte vielleicht helfen, "dass sie nicht in die rechte Szene abgleiten".

Am Alexander-von-Humbold-Gymnasium nimmt die Auseinandersetzung mit den Schatten des Nationalsozialismus einen breiten Raum ein. Seit Jahren sind hier regelmäßig Überlebende des Holocausts zu Gast, die das deutsch-jüdische Versöhnungswerk Yad Ruth nach Deutschland einlädt.

Bereits 2005 gewannen SchülerInnen des Gymnasiums den Bertini-Preis für ihre Theaterfassung des Films "Hitlerjunge Salomon". In diesem Jahr erhalten erstmals gleich zwei Projekte der Schule je einen der mit insgesamt 10.000 Euro dotierten sechs Bertini-Preise. Neben dem Unterrichtskonzept ist es erneut eine Theaterinszenierung, die die Auszeichnung gewinnt. Siebzig Oberstufenschüler haben ein selbst geschriebenes Stück mit dem Titel "Zukunft positiv" in Szene gesetzt, dass die Ausgrenzung von HIV-Infizierten zum Thema macht.

Zu den vier weiteren Preisträgern gehören mehr als fünfzig PennälerInnen des Ohlsdorfer Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Sie gestalteten aus den Berichten ehemaliger Zwangsarbeiter eine szenische Lesung, in der sie die Opferberichte mit Aussagen ihrer eigenen Großeltern kontrastieren. Zwei Schülerinnen des Harburger Heisenberg-Gymnasiums haben die Geschichte einer jüdischen Familie im Dritten Reich dokumentiert, drei SchülerInnen des Bramfelder Gymnasium Grootmoor einen Dokumentarfilm über "die Kinder vom Bullenhuser Damm" gedreht - zwanzig Jungen und Mädchen, die im Konzentrationslager Neuengamme erst als medizinische Versuchskaninchen mit Tuberkulose infiziert und dann im Keller einer ehemaligen Schule erhängt wurden, damit die Greueltaten nicht publik werden konnten.

Der in Hamburg-Barmbek aufgewachsene Ralph Giordano selbst hat die Laudatio für das an der Gesamtschule Bergedorf entstandene Theaterstück "Guantánamo - Hölle auf Erden" übernommen. Auf Grundlage der Erlebnisse des aus Bremen stammenden langjährigen Guantánamo-Gefangenen Murat Kurnaz ging es den Jugendlichen darum, das Thema Folter und "Menschenrechtsverletzungen auf die Bühne zu bringen". Dass es ihnen dabei gelang, "auch Empathie für die Opfer des Großverbrechens des 11. September sichtbar werden zu lassen", darin liegt für den Laudator, "die besondere Qualität" der preisgekrönten Inszenierung. Für den Schriftsteller ist der Preis nach eigenem Bekunden "die Krönung meines Lebens" und "das Glück meiner späten Tage" geworden. Es sei für ihn immer wieder "herzzerreißend" zu erleben, welche Anteilnahme junge Menschen für die Verfolgten der Nazi-Diktatur aufbringen würden.

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