Die Perversion ist die Kontrolle

Im März 2000 startet die Reality-Spielshow „Big Brother“ in Deutschland. RTL 2 sucht jetzt die Kandidaten für den Thrill des Wirklichen. Dem Gewinner winkt ein kleines Vermögen. Wofür eigentlich? ■ Von Ania Mauruschat

Kochende Socken, drei lesende Männer und eine Frau, die sich die Fingernägel feilt. Aufregend ist das nicht gerade. Trotzdem sind diese Bilder, die am Mittwoch eine Minute lang auf RTL 2 zu sehen waren, alles andere als harmlos. Denn es war das erste Mal, dass der Avantgarde-Sender in Sachen Trash die geballte Banalität von „Big Brother“ („BB“) zeigte, der Reality-Show, die in den Niederlanden jeden Abend so viele Leute in ihren Bann zieht wie sonst nur das Endspiel einer Fußball-WM. Ab März soll die Überwachungsshow auch in Deutschland bei RTL 2 ihren Siegeszug antreten, seit Mittwoch läuft die Kandidatensuche.

Menschenwürde wird an der Haustüre abgegeben

Auch wenn das Konzept teilweise MTVs „Real World“ oder Premieres „Das wahre Leben“ ähnelt, so stellt die niederländische Soap doch einen Höhepunkt am Ende des Reality-TV-Jahrzehnts dar. Zwar wurde in Deutschland der Thrill des Wirklichen schon von „Aktenzeichen XY“ in Szene gesetzt, doch riefen erst 1992 Tele 5 mit „Polizeiruf Deutschland“ und Hans Meisers „Notruf“ (RTL) die üblichen besorgten Debatten hervor. Das Neue und Tolle an „BB“ ist allerdings, dass es das erste Mal in einer Mischung aus Gameshow und Soap ans Eingemachte geht. Und das ist erst der Anfang. Sendekonzepte, in denen Menschen durch Städte gejagt werden oder auf einer tropischen Insel mit und gegen andere Kandidaten ums Überleben und eine Million Mark kämpfen müssen, gibt es längst, genauso wie echte Fight-Clubs im US-Fernsehen.

Kein Wunder also, dass die internationale Presse sich brennend für den neuen Kulturexport aus Holland interessierte. Und die Erfinderin, die Produktionsfirma Endemol Entertainment NV, wird täglich von ausgezeichneten Börsennotierungen darin bestätigt, dass „BB“ ihr bester Coup war.

Natürlich berichteten auch die deutschen Medien eifrig und empört. Die Hauptvorwürfe lauteten dabei, dass nichts über die psychischen Schäden bekannt sei, die Probanden bei diesem Menschenversuch nehmen könnten und dass die Veranstaltung mal wieder an unsere voyeuristischen Instinkte appelliert. Dass die Betreiber der Unterhaltungsfabrik aber diesem Voyeurismus eine normierende, kontrollierende Macht einräumen, ist das eigentlich Bahnbrechende an „BB“: Die Perversion ist die Kontrolle. Damit liegt das Konzept im Trend von „Truman Show“ und „Matrix“, allerdings ohne den mildernden Makel der Fiktion.

Für all jene, die sich langweilen in der schönen neuen Werbewelt voller sexualisierter Anti-Schuppen-Spots und Reklame für Ikea, MediaMarkt, Pringles, Fernet Branca, Ferrero Küsschen, M & Ms und C.K.One, für viele mag es also durchaus ein echt geiler Kick sein, endlich mal wieder in einem hässlich eingerichteten Wohnkarton völlig asketisch zu hausen, ohne Fernsehen und Fluchtmöglichkeiten in Einkaufsparadiese oder Alkohol.

Andererseits stellt „BB“ aber nicht nur für übersättigte Langweiler einen Reiz dar. Denn wer begibt sich schon freiwillig – anstatt in Ruhe und Frieden mit „ehrlicher“ Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen – in Gruppen-Iso-Haft mit Rund-um-die-Uhr-Bewachung? Wer lässt sich schon für rund 225.000 Mark erst selektieren bzw. „casten“, dann kontrollieren und normieren, um schließlich mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu acht eliminiert zu werden? Denn auch wenn die Gespenster der Eliminierten danach noch wochenlang durch Talk-Shows und Boulevard-Zeitungen geistern, dort, wo das „wahre Leben“ stattfindet – wo ihr Leben 225.000 Mark wert wäre, im Big-Brother-Bunker, da wurden sie ausgelöscht.

Die perfekte Kontrolle im Wohnzimmer

Für Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose – für all diejenigen also, die offiziell nicht mehr gebraucht werden, nichts zu verlieren haben und unfreiwillig über reichlich Zeit verfügen – wäre „BB“ eine Möglichkeit, legal an Geld für ein menschenwürdiges Leben zu kommen. Nur dass sie den letzten Rest Menschenwürde dafür an der Haustür abgeben müssten. Den Zuschauern dürfte das allerdings herzlich egal sein. Völlig chancenlos wären die Wehrlosen der Gesellschaft allerdings dann, wenn sie auch noch psychisch labil sein sollten, besteht doch bei Ausschluss aus der Gruppe Selbstmordgefahr. Erst kürzlich hat ein junger Mann in Schweden, nachdem er aus der Reality-Show „Expedition Robinson“ geflogen war, den Verantwortlichen seinen Suizid zugemutet. Die Macht, die früher Bild hatte, haben heute „BB“-Shows und „Maschendrahtzaun“-Songs. Es hat nun mal nicht jeder die Kraft, einerseits so angepasst wie möglich zu sein, gleichzeitig im extremsten Konkurrenzkampf zu bestehen und dabei auch noch von den Medien unabhängig zu bleiben. Kapitalismus war noch nie ein Kinderspiel.

Wenn Orwell einen heiß gelaufenen Totalitarismus skizzierte und Huxley einen heiß gelaufenen Kapitalimus, dann erleben die beiden konträren Systeme gegenwärtig ihre Synthese in der Realität: Inmitten der wunderbaren Warenwelt wird das absolute Kontrollsystem institutionalisiert, dessen Normierungsmacht über die Mattscheiben in die Wohnzimmer wirkt, wo allabendlich eine Fernsehnation aus glücklichen Konsumenten begeistert die eigene Entmündigung und Ohnmacht bestaunt, sie per basisdemokratischer TED-Abstimmung sogar noch forciert. Die Masse normiert öffentlich Individuen, die zu Vorbildern für die Masse werden. Das perfekte Kontrollsystem.

Blöd nur: Einen Ausgang wie in der „Truman Show“ durch die himmlische Hintertür in das Happy-End „Realität“ gibt es hier nicht. „Big Brother“ ist die Wirklichkeit.