Fahnenflucht: dritter Freispruch

■ Bei einem weiteren Prozess um den Aufruf zur Fahnenflucht hat sich die Auffassung, Desertion sei auch im Falle eines völkerrechtswidrigen Einsatzes strafbar, nicht durchgesetzt

Seit er im Herbst 1998 seinen Platz im Bundestag eingenommen hat, ist der Anblick des Christian Ströbele in Robe ein seltener. Gestern allerdings ließ er es sich nicht nehmen, als Strafverteidiger des niederländischen Pfarrers Hubertus Janssen im Amtsgericht Tiergarten aufzutauchen. Gemeinsam mit 27 weiteren Erstunterzeichnern einer Anzeige, die am 21. April 1999 in der taz erschien, ist Janssen des Aufrufs zur Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht angeklagt. In dem „Aufruf an alle Soldaten der Bundeswehr, die am Jugoslawien-Krieg beteiligt sind“, wurden diese aufgefordert, sich von der Truppe zu entfernen, da es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriff handle.

Wie bereits zwei vorhergegangene Verfahren endete auch das gestrige mit Freispruch. Ströbele, einer der wenigen Bundestagsabgeordneten der Bündnisgrünen, die sich immer eindeutig gegen den Nato-Einsatz im Kosovo positionierten, hatte zuvor mit einem seiner bekannten Plädoyers aufgetrumpft: „Da fällt es wirklich schwer, ruhig sitzen zu bleiben“, setzte er an, nachdem der Staatsanwalt erklärt hatte, selbst wenn es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriff gehandelt habe, rechtfertige das „niemals“ ein Verlassen der Truppe: „Fahnenflucht ist unter gar keinen Umständen zu rechtfertigen“, hatte der Staatsanwalt zuvor vor einem aufgebrachten Publikum im Zuschauerraum erklärt.

Ströbele konterte in scharfen Worten: Der deutsche Bundestag habe im Umgang mit den Deserteuren des Zweiten Weltkriegs Jahrzehnte gebraucht, um festzustellen, dass die von ihm vertretene Auffassung „absurd“ sei. Wenn, und bisher sei noch von niemandem das Gegenteil vernünftig begründet worden, der Krieg völkerrechtswidrig gewesen sei, „können Sie doch nicht allen Ernstes jemanden vor Gericht zerren, der dazu aufruft, daran nicht teilzunehmen.“ Und: „Angesichts der ungeklärten völkerrechtlichen Lage werfen Sie dem Angeklagten vor, er habe sich nicht rechtskundig gemacht?“

Ströbele bezeichnete eine Anklage wegen eines Aufrufs zur Desertion aber auch deshalb als „erhebliches Wagnis“, weil von der selben Staatsanwaltschaft seit Jahren Soldaten der ehemaligen Nationalen Volksarmee „in stundenlangen Plädoyers vorgehalten wird, dass sie Befehle befolgt haben“. Völlig zu Recht habe sich in diesem Fall durchgesetzt, dass auch Soldaten eigenes Denken abzuverlangen sei. Der Bundestagsabgeordnete nutzte die Gelegenheit aber auch, noch einmal grundsätzliche Kritik am Vorgehen der Nato – und an der Position vieler seiner Parteigenossen zu üben: Die Angriffe hätten weder Vertreibung noch Zerstörung und Ermordung verhindert, eine völkerrechtliche Legitimation habe zu keinem Zeitpunkt bestanden.

Für den Fall, dass der Angeklagte nicht freigesprochen werden sollte, beantragte Ströbele zur Klärung der Lage die Ladung dreier Völkerrechtler aus Oxford, Amsterdam und Hamburg: „Das ist ja ein Bereich, mit dem man als Jurist nicht jeden Tag zu tun hat.“

Die Richterin schloss sich mit ihrem Freispruch zumindest formaljuristisch dem Verteidiger an und erklärte, der fragliche Aufruf sei von der Meinungsfreiheit gedeckt. Weitere Prozesse stehen aus. Jeannette Goddar