Allahs Ferienkolonien

Marokkos Islamisten organisieren billigen Badeurlaub für Arme, Gebet inbegriffen. Die Regierung hat das jetzt verboten, aber die Leute gehen trotzdem

CASABLANCA taz ■ Seltsame Szenen bieten sich dieser Tage so manchem Sonnenhungrigen in Marokko. Hunderte von bärtigen Männern im traditionellen Gewand knien mit dem Rücken zum Meer an den Stränden und beugen sich im Gebet Richtung Mekka. Ein paar hundert Meter weiter sind es die Frauen, die Allah ihre Ehre erweisen. Polizeihubschrauber überfliegen die Szene. Beamte laufen aufgeregt die Dünen auf und ab. Zufahrtsstraßen werden kontrolliert.

Gerufen zum Gebet hat die islamistische Gruppe „Al Adl Wal Ihssane“ (Gerechtigkeit und Spiritualität). Seit 1980 richten die Anhänger der vom Staat nur widerwillig geduldeten Organisation unter Führung des 71-jährigen Scheichs Abdessalam Yassine Jahr für Jahr Zeltlager aus, die ein Protest gegen „die Verwestlichung der Sitten“ und zur Verteidigung der traditionellen marokkanischen Lebensformen sein sollen. Streng nach den Normen des Koran sind Frauen in Badeanzug oder, schlimmer noch, im Bikini, und das gemischtgeschlechtliche Baden verpönt.

100.000 Menschen kamen allein letztes Jahr in diese Ferienkolonien. Jetzt hat die Regierung die Camps verboten. Die Begründung: Es handle sich dabei um organisierte Demonstrationen und solche würden in Freizeitgebieten nicht genehmigt.

„Wenn wir dies strikt anwenden, müsste auch einem Fußballverein der Gang an denStrand verboten werden“, beschwert sich der Führer der Studentenbewegung von Al Adl Wal Ihssane, Hassan Benajeh. Er leitete 1999 in al-Harchane eine der sechs islamistischen Ferienkolonien. „Wir gehen davon aus, dass die Sommerferien ein Recht für alle sind“, lautet die Parole, mit der er und seine Gesinnungsgenossen dieses Jahr trotz Polizeikontrollen und zahlreicher Verhaftungen Wochenende für Wochenende zu den Gebetsdemonstrationen am Strand rufen. Die spektakulärste Aktion führten die Islamisten nur wenige Meter von dem Nationalheiligtum durch, der unter dem vor einem Jahr verstorbenen Hassan II. errichteten und nach ihm benannten Riesenmoschee an der Atlantikküste in Casablanca.

Der spirituelle Führer von Al Adl Wal Ihssane, Scheich Yassine, ist erse vor wenigen Monaten vom jungen König Mohammmed VI. nach zehn Jahren Hausarrest freigelassen worden. Jetzt sucht die größte islamistische Gruppe Marokkos die Kraftprobe mit dem Staat, bisher erfolgreich. „Nach der Freilassung von Yassine können König und Regierung die Gruppe nicht mehr länger behandeln, als würde sie nicht existieren“, mahnt der marokkanische Soziologe Mohammed Tozy.

Der Universitätsprofessor und Islamismusspezialist aus Casablanca sieht in den Camps mehr ein soziales als ein politisches Problem. Allein in Casablanca schätzt Tozy die Zahl der potentiellen Sommerurlauber auf eine Million. Viele von ihnen leben trotz einer festen Arbeit in Elendshütten rund um die wirtschaftliche Hauptstadt Marokkos. Selbst so manchem Staatsdiener reicht der Lohn nicht für eine Wohnung in der Stadt. Im Sommer wird die Geldknappheit zum Problem. Denn viele Strände sind privat und kosten Eintritt. Campingplätze sind zu teuer.

„Mit den Ferienkolonien kann Al Adl Wal Ihssane normalen Familien etwas bieten, was der Staat nicht leistet“, sagt Tozy. Denn auf den Campingplätzen der Islamisten war in den vergangenen Jahren nicht nur für fließend warmes und kaltes Wasser und Strom gesorgt. Neben dem religiösen Programm gab es Unterhaltung aller Art sowie billige Einkaufsmöglichkeiten. Die Strände wurden gesäubert. Das Ganze kostete nur 10 Dirham (2 Mark) pro Familie und Tag. Zwar bieten auch die traditionellen Parteien des Landes und die Pfadfinder billige Campingausflüge an, doch nur für Kinder.

Die „politisch-ökonomische Operation“ – so Tozy – der Ferienkolonien war deshalb ein Erfolg. Der Islamismuskritiker hat das Phänomen in den letzten Jahren ausführlich studiert. „Nur 20 bis 30 Prozent der Campbesucher gehören zum harten Kern von Al Adl Wal Ihssane, der Rest sind ganz normale Familien“, ist sich der Soziologe sicher. So verwundert es auch nicht, dass sich immer wieder ganz normale Badegäste spontan den Gebetsdemonstrationen anschließen.

REINER WANDLER

Zitat:„Damit können die Islamisten normalen Familien etwas bieten, was der Staat nicht leistet“, sagt der marokkanische Soziologe Mohammed Tozy