Kein Weg nach Hause

Der Regisseur und Oscar-Preisträger Mark Harris erzählt in seinem Film „Kindertransport“ von der Rettung jüdischer Kinder vor dem Holocaust

von PHILIPP BÜHLER

In den letzten zwei Wochen vor Abreise bekam Eva noch schnell die Erziehung, für die sich ihre Eltern eigentlich ein ganzes Leben vorgenommen hatten. Ratschläge, Ermahnungen. Dann ging es zum Bahnhof, zum Abschied nehmen, und Eva hörte, was zu dieser Zeit 10.000 andere Kinder in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei zu hören bekamen: „Wir kommen bald nach.“ Ein Versprechen, ohne das man wohl kein Kind jemals in diesen Zug gebracht hätte. Wenige Monate später, nach Ausbruch des Krieges, fuhren die Züge dann in die andere Richtung. Eva Hayman sah ihre Eltern nie wieder.

Der „Kindertransport“, wie ihn auch die Engländer nannten, war eine bis dahin beispiellose Rettungsaktion. Nach der Reichspogromnacht 1938 hatten jüdische Organisationen bei Premier Neville Chamberlain vorgesprochen. Solange die Nazis die Zwangsemigration erlaubten, sollten besonders gefährdete Kinder unter 17 Jahren bei britischen Gastfamilien untergebracht werden. Nach einer kurzen Beratung im Kabinett erfolgte die Zustimmung, außerdem wurde eine Garantiesumme von 50 Pfund pro Kind vereinbart. Ein „Akt des Mitleids“, von dem man insgeheim hoffte, dass die USA ihm folgen würden. Der entsprechende Antrag scheiterte Anfang 1939 im US-Kongress.

Tatsächlich standen die Eltern vor einer unmenschlichen Entscheidung. Viele Kinder von damals hegten noch lange Schuldgefühle. Weil sie sich unter lautem Wutgeheul verabschiedet hatten. Oder weil sie sich in stiller Vorfreude in den Zug setzten, das Land der Lords und Ladies mit den komischen Hüten und die zwei süßen Königstöchter gar nicht erwarten konnten. Manche hielten noch lange Kontakt mit den Eltern, schrieben nach Hause, später nach Theresienstadt oder anderswohin. Bis 1944, als die Antworten ausblieben.

Andere schafften es, die riesige Garantiesumme durch die Versendung zahlloser Bittbriefe auch für ihre Eltern aufzutreiben. Der kleine Jack Hellman überredete Baron Rothschild zu einer Arbeitserlaubnis für seinen Vater und empfing seine Eltern am Tag vor Kriegsausbruch mit stolzgeschwellter Brust. Als Inge Sadan ihren Eltern begegnete, die die Lager überlebt hatten, war man sich fremd geworden.

So unterschiedlich wie die Erfahrungen gestaltete sich später die Verarbeitung von Trauer. Die Mutter von Deborah Oppenheimer, der Produzentin des Films „Kindertransport“, starb, ohne je ein Wort über ihre Rettung durch den Kindertransport zu verlieren. Keiner der Zeitzeugen, die Oppenheimer in Großbritannien, den USA und Israel aufgesucht hat, wird sich je ein „Gott sei Dank!“ abringen.

Der Film „Kindertransport – In eine fremde Welt“ lässt die Wunde offen, redet nicht vom Erfolg einer Aktion, die für jeden Beteiligten mit Schmerz verbunden war. Seine Stärke liegt in der ungeheuren Vielfalt individueller Schicksale, von Erzählungen, die unmittelbaren Eindruck gewähren, wo sich der dokumentarische Anspruch auf Vollständigkeit verbietet. Nur zu Anfang, als die Ereignisse der „Kristallnacht“ mit dem Splittern von Glas und SA-Getrampel nach amerikanischen Dokumuster dramatisiert werden, wird deutlich, dass man es bei dieser Warner-Produktion mit einem Oscar-Aspiranten zu tun hat. Bereits 1998 gewann Regisseur Mark Harris für „The Long way home“, ein ähnliches Projekt über Holocaust-Überlebende, den Dokumentarfilm-Oscar.

„Kindertransport“ erzählt Geschichten vom kleinen Glück im Unglück, dem Schock über den Tod der Eltern und der Dankbarkeit, in einem fremden Land Aufnahme gefunden zu haben. Nicht jede neue Mutter war herzlich, nicht jedes Kind pflegeleicht. Heute sind die Kinder, die oft von einer Familie zur anderen zogen, zwischen 60 und 80 Jahre alt. Aber was heißt schon „Kinder“? Als ich in den Zug stieg“, sagt Eva heute, „war meine Kindheit zu Ende.“

„Kindertransport – In eine fremde Welt“ (Into the Arms of Strangers – Stories of the Kindertransport). Buch und Regie: Mark Harris. Produktion: Deborah Oppenheimer. USA 1999, 122 Min.