Ein Impfstoff als einzige Chance

Nach Jahren der Depression wächst wieder Hoffnung. Eine internationale Initiative versucht die Impfstoff-Entwicklung gegen Aids anzuschieben. Neue Impfstoff-Designs und neue Erkenntnisse über die Immunität könnten die Entwicklung voranbringen

von MANFRED KRIENER

„Der beste Zeitpunkt einenBaum zu pflanzen, war vor20 Jahren, der zweitbesteZeitpunkt ist jetzt.“ (Afrikanisches Sprichtwort)

Im heißen Sommer 1992 kam die Frohbotschaft von der Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam. Daniel Hoth, US-Impfstoff-Spezialist, zeigte sich überzeugt, dass noch „vor dem Ende dieses Jahrzehnts“ ein wirksamer Impfstoff gegen das Aidsvirus im Einsatz sein werde. Ein Jahr später warf sein Kollege Dan Bolognesi, damaliger Impfstoff-Koordinator der US-Gesundheitsbehörde NIH, beim Berliner Welt-Aids-Kongress mit optimistischen Prognosen um sich. Schon 1995, so diktierte er den Journalisten, würden erste große Feldversuche starten.

Alle Jahre wieder machten ähnlich markige Ankündigungen die Runde. Schließlich ging es darum, Gelder für die weitere Arbeit zu bekommen. Die Forscher schienen immer unmittelbar vor dem Durchbruch zu stehen. Erst Mitte der 90er-Jahre begann allmählich eine neue Phase der Ehrlichkeit. Die Impfstoffgemeinde musste zugeben, dass die Versprechen voreilig und überoptimistisch waren. Die traurige Wahrheit: Ein einsatzbereiter, wirksamer Impfstoff rückte in immer weitere Ferne. Zu variabel, zu trickreich erschien das Aidsvirus mit seiner hohen Mutationsrate und den verschiedenen Typen und Subtypen, um es mit einer Impfung in Schach halten zu können. Zudem hatten die Wissenschaftler noch keine Vorstellung davon, welche Reaktionen im Abwehrsystem des Körpers überhaupt notwendig waren, um den Menschen gegen den HIV-Überfall zu schützen.

Die Depressionsphase dauerte lange. Erst jetzt, zu Beginn des dritten Aidsjahrzehnts, verbreitet sich allmählich eine neue Aufbruchstimmung, begleitet von einer schonungslosen Analyse. Als „kolossalen Fehlschlag“ bezeichnet IAVI – die neu gegründete „Internationale Aids-Impfstoff-Initiative“ – das alte System der Impfstoff-Entwicklung. Wichtigste Kritikpunkte: – Die bisherigen Anstrengungen schielten – bei Aids wie bei anderen Krankheiten – fast ausschließlich auf den Markt der Industriestaaten. Bis ein im Norden erfolgreich eingesetzter Impfstoff auch in Entwicklungsländern verfügbar ist, vergehen mindestens 15 bis 20 Jahre. – Die Risiken der Impfstoffentwicklung blieben ebenso wie die ökonomischen Strategien allein den Pharmakonzernen überlassen. Diese mochten sich aber nicht auf die sündteure Erprobung unsicherer Impfstoff-Kandidaten einlassen.

„Warum“, so fragt ein Kenner der Szene, „sollen die Firmen an Aidsimpfstoffe andere unternehmerische Kriterien und Gewinnerwartungen anlegen als an die Produktion von Waschmitteln?“ Da sie sich in den Entwicklungsländern, dem Haupteinsatzgebiet eines künftigen Impfstoffs, keine Profite versprechen, hielt sich ihr Engagement in engen Grenzen. Was sich nicht rechnet, wird nicht produziert. Selbst aussichtsreiche Impfstoff-Kandidaten blieben deshalb im Labor stecken. Der Übergang von der Grundlagenforschung in die aufwendige klinische Erprobung scheiterte.

Das soll jetzt anders werden. Mit angesehenen Forschern in den eigenen Reihen reisen IAVI-Funktionäre durch die Industrieländer und werben für neue Finanzierungsmodelle, für eine „Private-Public-Partnership“, für milliardenschwere „Pools“, mit denen neu entwickelte Impfstoffe angekauft werden sollen, für beschleunigte Test- und Zulassungsverfahren und eine bessere Koordination der weltweiten Anstrengungen. Vor allem aber für den schnellen Einsatz verbesserter Impfstoffe. Hochrangige NIH-Forscher, aber auch die Weltbank und viele Regierungen signalisieren Unterstützung und engagieren sich auch finanziell für die neue Offensive.

Bisher hat nur ein einziger Impfstoff den Sprung in den großen Feldversuch, in die dritte, entscheidende Testphase geschafft. Dem Produkt der Firma „VaxGen“, das derzeit in Thailand und den USA an einigen tausend Menschen erprobt wird, werden aber kaum Erfolgschancen zugetraut. Sollte sich bei nur 30 Prozent der Kohorte ein Impfschutz erweisen, wäre das schon eine Sensation. Der Feldversuch ist nicht mehr als ein erster großer Testballon.

Doch gleichzeitig „explodiert die Epidemie“ (UN-Aidsdirektor Peter Piot), und ein wirklich schützender Impfstoff scheint angesichts begrenzter Erfolge von Nadeltauschprogrammen, Kondom- und Aufklärungskampagnen die beste, womöglich sogar die einzige Chance, die verheerende Epidemie zu stoppen. Inzwischen sind 36 Millionen Menschen weltweit infiziert, täglich stecken sich 15.000 neu mit dem Erreger an. Aids ist zur größten Gesundheitsbedrohung weltweit geworden. In dieser Situation sind, so ein Memorandum der Deutschen Aids-Stiftung (DAS), „Impfstoffe der einzige langfristig erfolgversprechende Weg.“

Die Impfstoff-Forschung steht zwar weiterhin vor gravierenden Problemen, doch es gibt auch Anlass zur Hoffnung. Ein neu gezüchtetes, besonders aggressives Virus, eine „Kreuzung“ aus HIV und dem Affenvirus SIV, hat das Repertoire der Tiermodelle deutlich vergrößern können. Mit dem neuen Virus infizierte Makaken erkranken schnell an Affenaids, während zuvor nur Schimpansen die Symptome der Immunschwäche zeigten; diese entwickelten sich aber nur sehr langsam. Die Wirksamkeit von Impfstoffen lässt sich jetzt leichter überprüfen. Und tatsächlich: „Im Tiermodell gibt es bereits schützende Impfstoffe, die funktionieren“, sagt Matthias Wienold, Vakzine-Experte in Diensten der DAS, die sich der IAVI-Offensive angeschlossen hat.

Wienold sieht beachtliche Fortschritte in der Konstruktion heutiger Impfstoffe. „Vor acht Jahren hatten wir eine Vakzine mit einem einzigen Epitop“, also nur einem Erkennungsmerkmal, das dem echten HI-Virus entsprach. Die jetzt entwickelten Impfstoffe haben teilweise mehr als 40 Epitope, die die Struktur von HIV sehr viel besser imitieren. Geimpfte Testpersonen zeigen: Das Immunsystem spricht auf diese neuen Impfstoff-Kandidaten an.

Ob eine Immunisierung überhaupt möglich ist, war lange umstritten. Die Pessimisten klopften den Takt, zumal es bis auf den berühmten Fall des „Berlin-Patienten“ bis heute keinen Betroffenen gibt, der die Infektion abgeschüttelt hätte. Ist das Immunsystem mit HIV definitiv überfordert? Neue Befunde lesen sich freundlicher. Eine Reihe afrikanische Prostituierte ebenso wie viele Langzeitpartner von Infizierten lassen den Schluss zu, dass unser Körper das Virus tatsächlich abwehren kann. Die Prostituierten waren – manche über viele Jahre – dem Virus ausgesetzt, ohne sich anzustecken. Uli Marcus, Aids-Experte am Robert-Koch-Institut: „Bei sexuell exponierten, aber nicht infizierten Frauen wurden bei Untersuchungen der Schleimhaut HIV-typische Antikörper entdeckt.“ Es muss also ein Viruskontakt vorhanden gewesen sein, aber offenbar konnte der Körper die Infektion abblocken. Es scheint also Immunreaktionen zu geben, die eine Ansteckung verhindern. Die Aufgabe der Forscher: Sie müssen die Reaktionsmuster im Immunsystem der afrikanischen Sexarbeiterinnen identifizieren und im Spiegelbilddesign einen Impfstoff bauen, der genau diese Immunantwort auslöst.

Eine neue Denklinie hat sich auch um die Frage der „sterilisierenden Immunität“ etabliert. Skeptiker glaubten bislang – nicht wenige tun dies noch heute! – dass eine Impfung quasi sterilisieren, also verhindern muss , dass das Virus überhaupt in seine Zielzellen eindringen kann. Ist es erst einmal weit genug vorgedrungen, bildet HIV sehr schnell so genannte stille Reservoirs, das sind Virenspeicher, die von der Körperabwehr kaum zu knacken sind. Tierversuche haben jetzt aber gezeigt, dass auch bei Aids möglich erscheint, was bei anderen Impfungen üblich ist: Der Erreger dringt zwar in den Körper ein, wird dort aber durch das per Impfstoff in Hab-Acht-Stellung versetzte Immunsystem unter Kontrolle gehalten.

Lange hatte sich die Impfstoff-Produktion auf die Hüllproteine von HIV konzentriert. Das sind jene Spikes, die beim HIV-Modell auf der Oberfläche wie „Fühler“ hervortreten. Die Hüllproteine werden im Labor gentechnisch hergestellt und sollen als Impfmaterial die Antikörperproduktion gegen HIV ankurbeln. Eine ausreichende Immunisierung konnten sie nicht herstellen. Die neue Generation der Impfstoffe benutzt für den Menschen harmlose Viren (etwa Vogelpockenviren) oder Bakterienstämme, in die zuvor Gene von HIV eingesetzt wurden. Nach der Impfung produzieren die Viren im menschlichen Körper HIV-Proteine und stimulieren so eine Abwehrreaktion gegen das Aidsvirus. Aber auch mit nachgebauten „virusähnlichen Partikeln“, mit neuen Peptidimpfstoffen und Abschnitten nackter Virus-DNS wird experimentiert. Die Zahl der möglichen Impfstoff-Designs wächst ständig und lässt auch Kombinationen verschiedener Kandidaten zu.

Jetzt kommt es vor allem darauf an, Geld zu mobilisieren und neue Finanzierungsmodelle zu etablieren. Der weltweite Etat für Impfstoffe belief sich 1998 auf 250 Millionen Euro, das entspricht nur 1,5 Prozent aller Aids-mittel für Verhütung und Behandlung. Die Bundesrepublik als eine der reichsten Nationen der Welt hat zuletzt ganze fünf Millionen Mark für konkrete Aids-Impfstoff-Projekte ausgegeben. Zum Vergleich: Die Entwicklung eines neuen Autotyps kostet ein bis zwei Milliarden Mark.