Lernen mit den alten Libertins

Benoît Jacquot hat einen Film über den Marquis de Sade gedreht, ohne dessen perverse Körperpartituren zu bebildern. „Sade“ erzählt von einer freundschaftlichen Erziehung zur Sinnlichkeit, wirklich sadistisch benimmt sich nur die Französische Revolution

von KATJA NICODEMUS

Jemandem Gewalt antun und jemandem etwas logisch erklären ist bei de Sade im Grunde das Gleiche. Seine Ökonomie der Körper ist durchdrungen vom Geist der Mathematik. Seine Gewalt ist die der zu Ende gedachten reinen Vernunft, und seine Superverbrecher sind letztlich immer Bestandteil einer Beweisführung. Deshalb verlieren Helden wie der menschenfressende Moskowiter Minski aus „Juliette“, der mit einer ausgeklügelten Maschine vom Bett aus gleichzeitig 16 Menschen töten kann, oder Juliette, die ihre Tochter nach einer Reihe unvorstellbarer Folterungen ins Feuer wirft, bei aller Lust an der Erniedrigung nie die Herrschaft über sich selbst.

Von De Sades dialektischer Antiaufklärung und seiner kontrollierten Psychopathologie war das Kino schon immer überfordert. De Sades Argumentation der Körper konsequent umzusetzen hätte für Pasolinis „120 Tage von Sodom“ eigentlich bedeutet, genau 600 minutiös beschriebene Perversionen hintereinanderweg zu inszenieren. So ist es die kleine Lösung geworden und immer noch ein Film, „den man gesehen haben muss, aber nicht ein zweites Mal sehen möchte“ (Ulrich Gregor).

Benoît Jacquot hat in seinem De-Sade-Film ganz auf die Bebilderung der streng komponierten Körperpartituren verzichtet. „Sade“ erzählt mehr oder weniger spekulativ von einem biografischen Abschnitt im Leben des Marquis, seiner Internierung in der Haftanstalt Picpus vor den Toren von Paris. Dank seiner Beziehungen hat es der zum Tode Verurteilte 1794 in dieses Luxusgefängnis geschafft, wo Adlige sich einen kleinen Aufschub vor der Guillotine erkaufen können. In diesem Biotop, wo die abgehalfterten Reste einer besiegten Klasse vor sich hin gären und die ohnehin schon angeschlagenen Sitten zusehends verfallen, trifft der Marquis die junge Unschuld Emilie, ein Wesen, das von dem alternden Libertin noch einiges lernen will – hier und jetzt und bevor es zu spät ist.

Daniel Auteuil spielt de Sade mit der zerstreuten und ein bisschen müden Haltung eines Mannes, der die korrupten Zeitläufte durchschaut und irgendwie alles schon mal gesehen hat. Als Mentor führt er die zarte Schönheit rücksichtsvoll zu ihrem eigenen Begehren, ohne sich an ihr zu vergreifen (was angesichts der einschlägigen Biografie eines Mannes, der mit über siebzig noch eine Sechzehnjährige verführt hat, allerdings ziemlich unwahrscheinlich ist). Völlig unsadistisch betreibt Jacquots Film also eine Art freundschaftliche Erziehung zur Sinnlichkeit, bei der de Sade nur die Rolle eines Zeremonienmeisters übernimmt, der die anderen Körper behutsam zueinanderführt, während er selbst sich mit einem hin und wieder lakonisch eingeblendeten Dildo zu begnügen scheint.

So taucht man mit Jacquot ein in die erwartungsvolle Stimmung eines Tagesanbruchs, in eine angenehm unhistorische Zwischenzeit, die mit der hin und wieder melancholisch einsetzenden Musik von François Poulenc ein ruhiges filmisches Menuett ergibt. Mit de Sade und seinen Schriften hat das alles nur wenig zu tun, ohne dass man sich daran allerdings stören muss.

Wesensverwandt mit de Sades Texten bzw. seiner Auseinandersetzung mit totalitären Systemen ist bei Jacquot nur die Darstellung der Revolution bzw. der Einbruch der Außenwelt. Gilles Deleuze zum Beispiel sah in de Sades Welt einen perversen Doppelgänger der Geschichte. In ihren Kerkern, Verliesen und Festungen errichten seine Figuren ihre eigene Version der neuen Welt, an deren Verwirklichung die Jakobiner draußen gerade gescheitert sind. Bei Benoît Jacquot ist die Revolution das eigentliche Monster. Eine ideologisch überfrachtete Vernichtungsmaschine, die am Fließband genau die verrenkten, verstümmelten, ineinander verschränkten Leichen produziert, die de Sade mit seinen Körperserien beschrieben hat.

„Sade“. Regie: Benoît Jacquot. Mit: Daniel Auteuil, Marianne Denicourt, Isild Le Besco u. a. Frankreich 2000, 95 Min.