Das byzantinische Amerika

In seiner Heimat feierte Nikita Michalkows zaristisches Kino-Epos „Der Barbier von Sibirien“ den neuen Nationalismus. Seine politischen Ambitionen hat der Regisseur aber inzwischen ad acta gelegt

von BARBARA SCHWEIZERHOF

Auch in Russland gibt es jahreszeitgebundene Süßigkeiten, und die Moosbeere mit Zuckerüberzug ist eine davon. Als etwas, das man sehr gerne den unkundigen Fremden anbietet, steht sie zugleich sinnbildlich für all jene Waren, die als typisch russisch aufgepeppt „Russizität“ im Ausland verkaufen. Nikita Michalkows „Barbier von Sibirien“ sei eine Moosbeere, lautete denn auch das Urteil der meisten Kritiker in Russland. Zutiefst in seiner Eitelkeit getroffen fühlte sich Michalkow jedoch erst, nachdem sich weder daheim noch im Ausland der erwartete Preisregen einstellen wollte. Selbst die Tatsache, dass sein Film in Russland so viele Zuschauer hatte wie kein anderer Film nationaler Produktion seit den späten 80er-Jahren, konnte ihn nicht trösten – schließlich war ja auch noch kein Film in Russland so professionell und flächendeckend beworben worden.

Während das Land also mit Kopien überschüttet wurde, erschien Michalkow auf allen Fernsehkanälen und redete vom Russland, „das wir verloren haben“, das er in seinem Film wiederbeleben wolle, genauso wie die russische Kinowirtschaft. Dafür war er sogar bereit, seine letzte tiefe Kränkung zu vergessen: 1994 gab es in Cannes für seinen später Oscar-prämierten Film „Die Sonne, die uns täuscht“ nur den Spezialpreis der Jury. Lauthals hatte er damals verkündet, nie wieder einen Film in Cannes zu zeigen – 1999 war der „Barbier“ dann allerdings Eröffnungsfilm.

Mit dieser Attitüde von Prätention, Nationalstolz und ewigem Beleidigtsein wurde Michalkow zur Inkarnation des „neuen Russen“, der ideologisch eine mehr als krude Mischung vertritt, die er großzügig und wortreich zum Besten gibt: Russland gehöre nicht zu Europa, sondern zu Eurasien, es sei wie Amerika, nur byzantinisch, sind zum Beispiel gerne von ihm vertretene Thesen, unter denen man sich viel, doch nichts Genaues vorstellen kann. War „Die Sonne, die uns täuscht“ noch eine zwar melodramatische, aber ernsthafte Reflexion der Stalinzeit, ist der „Barbier von Sibirien“ nur noch eine Bilderbuchillustration typischer Michalkow’scher Denk-Versatzstücke. Von den Klischees der russischen Populärkultur (das unstillbare Bedürfnis der russischen Seele nach Wodka und ordentlichen Prügeleien unter Männern) einmal abgesehen, gehört dazu die Verherrlichung bestimmter Epochen der zaristischen Vergangenheit.

Warum sich Michalkow für seinen neuen Film aber ausgerechnet der Zeit Alexanders III. zugewandt hat, um zu zeigen, wie satt und reich an Anstand wie an Bodenschätzen Russland einst war, ist selbst für nationalistisch gesinnte russische Historiker kaum nachvollziehbar. Die Kadettenschule, in der sich der Großteil der Handlung abspielt, ist ganz gegen jede Quellenangabe ein Hort an Gemütlichkeit, in dem die Hemden so weiß, die Streiche der Jungs so lustig und die Autoritäten streng und gutmütig sind. Auch die Allgemeinbildung im ausgehenden 19. Jahrhundert hat bei Michalkow ein Niveau, das offenbar durch Alphabetisierung und Elektrifizierung unter den Bolschewiki erst zerstört wurde: vom Pförtner bis zum General spricht alles fließend Englisch. Im „Barbier von Sibirien“ kommt nämlich ein Fräulein aus Amerika ins kalte Russenreich und lernt schon im Zug einen bezaubernden Junker kennen. Schicksalbestimmte Umstände verhindern den russisch-amerikanischen Liebesbund, der aber trotzdem nicht ganz unfruchtbar bleibt.

Unterschwelliges Thema des Films ist natürlich die Konkurrenz der Systeme, wobei am Ende, schließlich ist’s ein Film von Michalkow, Russland eindeutig besser abschneidet. Hier zeigt er sich ganz als Produkt seiner sowjetischen Erziehung.

Interessanterweise stellt Michalkows Familie eine einmalige Mischung aus zaristischem und sowjetischem Adel dar. Die Mutter entstammt einer angesehenen Künstlerdynastie, der Vater ist Dichter der Sowjethymne. In den letzten Wochen war Vater Sergej öfter in den Schlagzeilen, weil er pflichteifrig seinen alten Hymnentext auf den neuesten Stand gebracht und von Sowjetisch auf Orthodox umgeschrieben hatte. Dass Nikita im „Barbier von Sibirien“ als Zar Alexander III. auftritt, wurde zum russischen Filmstart vor zwei Jahren noch als Zeichen echter politischer Ambitionen gedeutet, zumal er sich wie sein Vater stets gerne in der Nähe der Mächtigen aufhält. Inzwischen hat sich geklärt, dass er mit der Verkörperung von Russizität schon seine Erfüllung gefunden hat.

„Der Barbier von Sibirien“. Regie: Nikita Michalkow. Mit: Julia Ormond, Richard Harris, Oleg Menschikow u. a., Russland 1998, 177 Min.