Die Rettung der Britney S.

Was hat Rembrandt mit einer Popsängerin zu tun? Nicht die Wertschätzung der besseren Kreise. Sie verachten die Spaßgesellschaft, wie sie die einfachen Stände schätzen. Eine Kritik anlässlich der Silvesterparties

von MICHAEL RUTSCHKY

Unter den Selbstvorwürfen, die unsere Gesellschaft sich so gern macht, rangiert der, sie sei eine Spaßgesellschaft, ziemlich weit oben. Genau besehen erkenne ich gegenwärtig keinen schärferen. Die Spaßgesellschaft mit der „Ichgesellschaft“ zu toppen, misslang sofort; vermutlich wegen des eingebauten Blödsinns. Dass wir eine kapitalistische Gesellschaft seien, sagt man inzwischen ohne Eifer.

Aber was bedeutet der Selbstvorwurf der Spaßgesellschaft? Die elfjährige Hanan hat einen Musiker zum Vater, der sich auf traditionelles arabisches Material spezialisiert. „Das ist eher was für Typen, die auf Klassik stehen, auf Entspannung, und die Natur retten wollen“, bemerkt die Tochter skeptisch. „Ich will einfach nur meinen Spaß haben.“ Sie schwärmt für Britney Spears.

Die Schülerin beschäftigt, womit die Gesellschaftsmitglieder insgesamt so intensiv befasst sind: sich zu unterscheiden. Dabei steht, wer gerade ich sagt und seine Position markiert, sofort den anderen Leuten gegenüber. Mag sein, dass die Schülerin Hanan dabei auch leibhaftig welche vor Augen hat, insofern zum Freundeskreis ihrer Eltern die Typen gehören, die auf Klassik stehen, die Meditation betreiben und die Natur retten wollen.

Meist verhält es sich freilich so, dass die anderen Leute, von denen ich mich (und meinesgleichen) unterscheide, unsichtbar hinter jenem Horizont leben und gar nicht in vivo zu beobachten sind. Deshalb macht das Unterscheiden so viel Spaß. Und hier mag auch der Grund liegen, warum der Selbstvorwurf der „Ichgesellschaft“ misslang: Wer ich sagt, stellt sich der Gesellschaft (den anderen Leuten) gegenüber. Die Formel „Ichgesellschaft“ verwirrt nur.

Die Einlassung der Schülerin Hanan bietet uns insofern einen interessanten Aufschluss, als sie uns und ihresgleichen zu den anderen Leuten rechnet. Denn hier gilt Britney Speras, nichts wahr, als abscheulich, und der Gedanke, unsere Gesellschaft müsse insbesondere die Natur retten, ist noch nicht völlig abgeblasst. Die Schülerin Hanan verrät einen feinen Sinn für die Klassenverhältnisse: Es gibt die Ernstler, die sofort an das große Ganze denken und ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortlichkeit bis zum persönlichen Musikgeschmack hinunter durchstellen. Und dann gibt es sie, elf Jahre alt, von Britney Spears begeistert; sie hat auch einen Tanzkurs belegt, weil der Prospekt versprach, man lerne sich dort wie in einem Videoclip bewegen. Hanan hofft auf einen Realschulabschluss.

Spaß zu haben, nichts als Spaß, ist keinesfalls ohne Anstrengung. Man muss die Tanzschritte lernen, wenn man sich selbst in einem Videoclip an der Seite von Britney Spears imaginieren will. Man muss im Informationsfluss mitschwimmen: Der Fan von Britney Spears hat stets das neueste korrekte Wissen über Britney Spears vorzuweisen.

Dasselbe gilt für Fans von Xavier Naidoo oder Hertha BSC oder was immer. Es gehört zum Spaß, dass man bestens informiert ist und einander damit kleine Schaukämpfe liefern kann. Viele Etagen weiter oben in der Klassengesellschaft, wo man sein kulturelles Vergnügen an meinetwegen Rembrandt keinesfalls als Rembrandtfan bezeichnen würde – höchstens zum Spaß –, dort oben existiert für die Art von Wissen, das die elfjährige Hanan in allen Britneyspearsdingen zeigt, der Begriff connaisseurship.

Der Rembrandtliebhaber hat sich als Rembrandtconnaisseur zu erweisen, „Die Anatomievorlesung des Dr. Nicolas Tulp stammt aus dem Jahr 1632 und hängt im Mauritshuis, Den Haag. Das letzte Mal sah ich sie dort im Sommer 1997; an den Unterschieden zur Maltechnik Vermeers konnte ich mich wieder gar nicht sattsehen.“ Die Freude, die der Rembrandtconnaisseur beim Sammeln, Sortieren und Umsortieren seines Rembrandtwissens empfindet, würde er niemals Spaß nennen.

Und die Schülerin Hanan halt auch nicht. Was mir an ihrer Einlassung imponiert: wie sie ihr Terrain sichert. Ich will einfach nur meinen Spaß haben: Damit stellt sie sich selbst nicht nur den anderen Leuten, den Connaisseurs der arabischen Klassik und Naturrettern gegenüber, sie schützt sich vor ihren Ansprüchen, ihren kulturellen und politischen Zudringlichkeiten. Der Satz ist eine Geste des Ausweichens – eine Elfjährige, eng eingepasst in die Familie und die Schule und die Peergroup, verfügt ja über wenig freien Raum.

Überhaupt mag der Satz, ich will einfach nur meinen Spaß haben, wenn man das Schema der Klassenverhältnisse zugrunde legt, eine solche Schutzformel darstellen, mit der man weiter unten die kulturellen Zumutungen von weiter oben abweist, indem man ihnen ausweicht. Warum schauen Sie regelmäßig Volksmusik im Fernsehen? Warum karjolen Sie dauernd auf Ihrem bike durch die Gegend? – Ich will einfach nur meinen Spaß haben.

So steht der Spaß, den man weiter unten verfolgt, den elaborierten Freuden der Connaisseurs nicht nur so gegenüber wie das Schweinenackensteak der cuisine. Sich auf seinen Spaß zu berufen, damit bringt man ein Vergnügen in Sicherheit – was als Geste der Diskretion gelesen werden muss. Die kulturell interessierten Klassen, auch noch die versprengtesten Kader des Bildungsbürgertums sind nämlich sehr aufdringlich, und sie verfügen mit dem kulturkritischen Diskurs über ein höchst raffiniertes Fangnetz. Wer beim Begaffen der Bigbrothergefangenen bloß seinen Spaß haben wollte, sah sich plötzlich einer Redeflut des Feuilletons gegenüber.

Es verhält sich also nicht so, dass die Spaßgesellschaft arglos und spontan ihrem Spaß nachging, und dann äußerten besorgte Beobachter ihre Bedenken – es verhält sich eben auch so, dass die besorgten Beobachter sich keineswegs zu der Gesellschaft zählen („unsere Gesellschaft“), die sie als Spaßgesellschaft denunzieren. Sie meinen ihr gegenüber zu stehen.

Es geht um die anderen Leute; und diese anderen Leute haben einen genauen Sinn dafür, dass sie kritisch-besorgt beobachtet werden. Sie versuchen ihre Vergnügungen, wenn nicht der Beobachtung, dann der Beurteilung zu entziehen: Meine musikalischen Vorlieben (Britney Spears) sind ohne jeden gesamtgesellschaftlichen Bezug; ich will einfach nur meinen Spaß haben.

Wenn ich richtig sehe, sind haargenau diese Verhältnisse auch an der notorischen Love Parade zu erkennen. Dass sie eine politische Demonstration sei, erhöht einerseits die ökonomischen Gelegenheiten der Veranstalter, klar; andererseits soll es aber auch die kritischen Beobachter verwirren, wenn nicht sedieren: dass es hier nicht bloß um ein massenhaftes Tanzvergnügen geht, also Spaß, sondern dass das große Ganze im Bick dieser jungen Menschen bleibt.

Wenn sie dann als Einzelne von der Kamera erfasst werden und vor dem Mikrofon gestehen, dass sie bloß für den Spaß hier sind, dann kriegen wir wiederum den Mechanismus zu sehen, den uns die elfjährige Hanan zeigt: Rettung eines persönlichen Vergnügens vor dem Zugriff von Lehrpersonen und Bedenkenträgern, die dem (jungen) Menschen die ganze Zeit zur Vertiefung in die wirklich wichtigen Belange raten und sich die Überprüfung vorbehalten, ob er der Forderung nachkommt. Wahrscheinlich wäre dies das Ende der Love Parade: Wenn ein besonders niedlicher junger Mensch sein Dabeisein vor der TV-Kamera mit anspruchsvollen Formulierungen Friedrich Nietzsches über das Dionysische erläuterte ...

Man kann sich aus der Kritik am Spaß und dem Spaß selber – dies scheint mir die Reihenfolge ihrer Entstehung zu sein – ein Schema basteln. Dann klären sich nicht nur die Verhältnisse zwischen den Rembrandt- und den Britneyspearsconnaisseurs, sondern auch die Mikroverhältnisse eines jeden kulturellen Feldes. Was Pop angeht, so bin ich einfach zu lange aus der Übung. Aber dass in der entsprechenden Community Britney Spears die Position, die Rembrandt in der Kunstwelt innehat, unbedingt verfehlt und eher die eines virtuosen Schmieranten wie Georges Mathieu einnimmt, das kann ich ahnen. Auch in der Kunstwelt war (der vergessene) Georges Mathieu bloß Spaß – vergleichen mit Jackson Pollock oder Willem de Kooning. In dem Berliner Verein Kunst-Werke kann man eben eine Ausstellung betrachten, mit der die französische Kuratorin Catherine David – die in Kassel die documenta X ausrichtete – die Kritik am Spaß in der Kunstwelt selber zu praktizieren beabsichtigt. Man soll sich den eher unansehnlichen Exponaten (Videos, Fotografien) mit einer Hingabe widmen, als handle es sich um ikonografisch und technisch hochkomplexe Bildwerke wie Picassos „Guernica“ oder Goyas „Desastres de la Guerra“. Andererseits inszeniert die gestrenge Catherine David als Lehrperson – mich erinnert sie immer an Tante Elfriede, meine Kindergärtnerin (vgl. taz.mag vom 2./3. Mai 1998) – die Kritik am Spaß in der Kunstwelt so deutlich als soziologisches Spiel, dass man daran – schon wieder seinen Spaß haben kann.

Besonders prägnant lässt sich mein Schema auf die Kinowelt anwenden. In ihr hat sich die Fraktion der Kinogeher eigentlich überhaupt erst gebildet, als sich die Fraktion der Cineasten formierte und den Film aus dem Bereich des Vergnügens in den der Kunst(kritik) zu transferieren begann.

Den Rembrandt oder Pollock der Cineasten, den Protagonisten der Kritik am Kinospaß, das Äquivalent zu Chatherine David in der Kunstwelt gibt leider der aus unklaren Gründen seit langem so beleidigte und humorlose Jean-Luc Godard – von dem ich kürzlich „La Chinoise“ (1967) mit großem Vergnügen und zu meiner Belehrung wieder gesehen habe. Seit die Cineasten sich um Godard zwecks Kritik an Hollywood versammeln, bestehen die Kinogeher darauf, sie wollten einfach nur Spaß haben.

MICHAEL RUTSCHKY, 57, lebt als Alltagsbeobachter und Essyaist in Berlin. Sein jüngstes Buch erschien unter dem Titel „Lebensromane. Zehn Kapitel über das Phantasieren“, Steidl, Göttingen 1998, 304 304 Seiten, 38 Mark