In der unmöglichen Bewegung

Hochtechnisierung und Sexualität, Gewalt und Frivolität, großindustrielles Goldfurnier und dekadente Partys: Der Regie-Exzentriker Raúl Ruiz begibt sich in Marcel Prousts literarische Zeichensysteme. Sein Film „Die wiedergefundene Zeit“ ist ein Irrsinnsprojekt ganz im Sinne von Prousts Sonderweg

von MANFRED HERMES

In den letzten Jahren ist Bewegung in die Proust-Rezeption gekommen. Neue Biografien erscheinen fast jährlich, und seit Luzius Kellers Neuübersetzungen ist bis auf weiteres für neues Material gesorgt. Warum dann Proust noch verfilmen? Nicht umsonst sind alle bisherigen Versuche gescheitert, und auch Raúl Ruiz’ „Die wiedergefundene Zeit“ beginnt alles andere als viel versprechend. Man war natürlich in Illiers, hat die Kunstgewerbemuseen auf den Kopf gestellt, und in den ersten Minuten, der Proust-Darsteller liegt keuchend im Bett, wirkt der Film mehr wie Adlons grottige „Céleste“ als wie der Tribut an eine literarische Ausnahmearbeit. Sich ausgerechnet auf den letzten Band der „Suche nach der verlorenen Zeit“ zu beziehen, macht eine Verfilmung auch nicht gerade weniger anspruchsvoll, werden hier doch alle Motive des Romans noch einmal aufgenommen und durch das fragile Konzept der Mémoire involuntaire geschickt. Einen äußeren Rahmen bildet dabei eine Party bei der Prinzessin von Guermantes, auf der die Überlebenden zu einem Furcht erregenden Gruppenbild zusammenkommen. Allein für den Weg dorthin benötigt Proust das halbe Buch.

So viel Luft hat eine Literaturverfilmung nicht. Auch andere Möglichkeiten fehlen: Ruiz’ Film ist ein wenig auch das Reich der angeklebten Schnurrbärte und ratternden Pferdewagen. Aber dann macht er schnell klar, dass es nicht ein gemütlicher Kostümfilm war, was er im Schilde führte. Vielmehr verteilt Ruiz auf dem großindustriellen Goldfurnier der Nach-Napoleon-III-Zeit jede Menge Proust-nahe Zeichen von Hochtechnisierung und Sexualität, Gewalt und Frivolität, Dümmlichkeit und Sarkasmus. Da so etwas wie eine Story weder interessant gewesen wäre noch möglich war, haben Raúl Ruiz und Gilles Taurand eine Folge beinahe zusammenhangloser Szenen geschrieben, zwischen denen Submotive, Requisiten und Geräusche vermitteln: St. Loup, der seine Ehe mit Gilberte Swann mit der Ausdruckstänzerin Rachel und Besuchen im Männerbordell auflockert. Ein Essen bei den Verdurins, bei dem die Goncourts zu Gast sind. Odette, die einem ehemaligen Kunden einen letzten Gefallen tut, Charlus und Morel, Erinnerungen an Combray, Balbec. Das kleine Motiv von Vinteuil, der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen auf das Denken der Gesellschaft. Ohne große Umstände wechselt der Film zwischen diesen Szenen, zwischen im Roman weit auseinander liegenden Zeiten, Figuren und Themen, wobei die diversen Homosexualitäten auch hier als eine geheime, aber breite Furche das gesellschaftliche Leben bestimmen.

Wichtigstes Mittel zur Herstellung von Fluss sind für Ruiz jedoch die Kamerafahrten. Sie greifen nicht nur in die Räume, sondern vermitteln vor allem zwischen den Zeitebenen, die sonst nur an den drei, vier Proust-Darstellern zu unterscheiden sind. So entsteht ein Sog, dessen Geschmeidigkeit wohl auch Nicht-Leser des Proust-Romans erfasst, obwohl man sich immer wieder fragt, was die mit den meisten Infos eigentlich anfangen. Sicher ist es nicht unerheblich, dass der Film einen schnellen Schritt hat und sehr gut besetzt ist, wenn den Schauspielern auch immer nur wenige Augenblicke bleiben, um eine Figur zu entwickeln. John Malkovich als Charlus sorgt für einen der Höhepunkte des Films, wenn er in seinem ersten Auftritt von einer Ideologiekritik der französischen Kriegsberichterstattung zum Loblieb auf soldatische Schönheit übergeht und sein Gegenüber dann listig nach dem Exliebhaber ausfragt.

Wenn man heute die „Suche“ liest, dann vollzieht man damit auch eine „unmögliche“ Bewegung nach. Man steigt in das große, weise Gesellschaftspanorama und wird ebenso weltläufig, aufnahmefähig und präzise wie der Erzähler. Man wird aber vor allem Teil jener Anstrengung, die das fragile Subjektkonstrukt auf die Spur einer erweiterten Romantheorie zwingt. Prousts Theorie war auch vor neunzig Jahren schon heikel und als Experiment kaum wiederholbar. Seine Fixierung auf die Arbeit am Buch als einzig denkbaren Sieg über Zeit und Tod sorgte schon bei Walter Benjamin während seiner Übersetzung für wachsende Beklemmung. Heute ist diese Position ebenso schwer genießbar, obwohl die meisten von uns eigentlich in eine Situation hineingeboren wurden, die der Kunst eine fast religiöse Rolle zuwies. Insofern realisiert sich beim Proust-Lesen immer wieder auch die Sehnsucht nach solchen Verbindlichkeiten, deren Unmöglichkeit man gleichzeitig nur zu klar erkennt. Ruiz aber hat in seinem Film Partei für Prousts Sonderweg ergriffen und lässt am Ende des Films daher den Menschen Proust Richtung Meer schreiten, während sich der Erzähler auf ein ewiges Leben freuen darf.

Literaturverfilmungen sind einerseits das Letzte, was man braucht, andererseits kann das Spiel mit vorgegebenen Bedeutungen zu etwas führen, das, wenn schon sonst nichts, den Kostüm- und Ausstattungsfilm erfrischt. Selbst mit dieser reduzierten Erwartung ist „Die wiedergefundene Zeit“ gut als beeindruckendes Irrsinnsprojekt erkennbar. Der Irrsinn besteht darin, diesem Roman überhaupt eine filmische Entsprechung geben zu wollen. Es ist Raúl Ruiz’ große Leistung, dass sich die Frage nach der Berechtigung niemals stellt.

„Die wiedergefundene Zeit“. Regie: Raúl Ruiz. Mit: Cathérine Deneuve, Emmanuelle Béart, John Malkovich, Pascal Greggory u.a. Frankreich, 1999, 157 Min.