Zwischen Dogma und C & A

Auf der Suche nach einem stilisierten Realismus: Esther Gronenborns eigenwilliges Berliner Jugenddrama „alaska.de“

Die Rollen unterm Koffer sind kaputt. Sabine zieht ihn wie ein bockendes Tier hinter sich her. Irgendwo in Hohenschönhausen hat die Mutter die 16-Jährige ausgesetzt. Jetzt soll sich der Erzeuger um die Tochter kümmern.

Zustellen muss Sabine sich selbst. Auch wenn sie ihre neue Adresse nicht einmal auf dem Stadtplan finden kann. Hohenschönhausen – Symmetrie der Trostlosigkeit im Osten von Berlin. Auch die meisten der Laiendarsteller aus „alaska.de“ stammen von hier, sind aufgewachsen zwischen Wohnblöcken, in deren Entwurf die psychische Verelendung ihrer Bewohner irgendwie schon angelegt ist. Für die Kinder gibt’s die Glotze, Nintendo und die Apathie der Eltern. Und weil das Über-Ich nun einmal alkohollöslich ist, sind Schläge oft die vertrauteste Form der Zuwendung.

Wer sich hier in den Planquadraten verirrt, kann sich an den großen Gasleitungen orientieren. Graue Adern aus Beton und Stahl, „wie in Alaska“, meint Eddi, mit dem sich Sabine später anfreundet. Doch Alaska ist weit. Ziemlich weit für die, die hier leben und die sich kaum vorstellen können, dass die Welt hinter den Pipelines keine Betonplatte ist. Wenn Eddi und seine Freunde sich ihr Leben ausmalen, klingt das so: „Ich will, dass alles vorbei ist. Ich will woanders hin“ – „Reiß dich zusammen. Denk an was anderes. Denk an übermorgen.“ – „Wie, an übermorgen?“ – „Na, an die Zukunft, wenn alles vorbei ist.“ Meistens quatschen sie jedoch so, als wären sie ganz schlimme Burschen. Mädchen, die sie toll finden, nennen sie am liebsten „Fotze“. Das ist im Kraftmeierverbund noch am unverfänglichsten.

Als Sabine eines Tages Eddis Freund Micha mit einem Messer wegrennen sieht und ein paar Schritte weiter eine Leiche findet, wird sie als Zeugin zur ernsthaften Bedrohung. Vor allem Micha sucht seitdem nach einer Steigerung für „Fotze“. Schließlich hat man ihm nach der letzten Jugendstrafe klar gemacht: „Du bist jetzt nicht mehr der problembeladene Teenager, sondern Herr Jacobovskis. Du brauchst jetzt nur noch ein kleines beschissenes Kaugummi zu klauen, und dann gehste in’n Knast. Nicht in den Eiapopeia-Jugendknast, sondern richtig.“

„Alaska.de“ ist Ester Gronenborns erster Kinofilm. Es ist kein „dreckiger, kleiner Film“ von der Straße geworden, wie ihn sich Kluge oder Straub vor zwanzig Jahren gewünscht haben. Dafür ist der dokumentarische Gestus nicht immer beiläufig genug. Eine Hand voll Einstellungen soll als raffinierte Komposition durchaus im Gedächtnis bleiben. Da sieht die Wohnburg schon mal so herrlich morbide aus wie Lars von Triers „The Kingdom“. Breakdance im Gegenlicht, HipHop vorm Jugendknast erinnern leicht an Fanta- oder C & A-Werbung und machen Gronenborns Erfahrung als Musikclip-Regisseurin für Doro offensichtlich. So versteigt sich der Film bei seiner Gratwanderung zwischen Stilisierung und Unmittelbarkeit schon mal in seltsame Pittoreske.

Vielleicht sind das alles notwendige Experimente auf dem Weg zu einem neuen Realismus. Wenn auch einem, der es zwischen Dogma und Werbewelt schwer haben wird, seinen ästhetischen Eigensinn zu behaupten. Die Stärke des Films liegt in all den Momenten, in denen er kunstvoll genug bleibt, um nicht zum sozialpädagogischen Lehrstück zu geraten, und kunstlos genug, um noch zu berühren. In den Sequenzen, in denen sich die Wirklichkeit in dem Lochmuster einer zahnsteinfarbenen Gardine verfängt oder in den spröden Dialogen der Jugendlichen, die das Reden nie gelernt haben. Gronenborn zeigt Gespür für die Möglichkeiten ihrer Amateure, denen sie in einer ausführlichen „Factory“-Arbeit zum ureigenen Ausdruck verhalf. Keine herablassende dramaturgische Routine, die die Widersprüche ihrer Wirklichkeit erdrückt. Da gibt es nichts zu begreifen oder zu akzeptieren außer Verzweiflung, Angst und Wut. Eine Konstellation, die in „alaska.de“ bald die eigenen Kampfhunde von der Kette lässt.

Am Ende stehen sie wieder alle im Kreis um einen Toten. Und wieder könnte keiner von ihnen sagen, wie es dazu kam.

BIRGIT GLOMBITZA

„alaska.de“. Regie: Esther Gronenborn. Mit Jana Pallaske, Frank Droese, Toni Blume. Deutschland 1999, 90 Min.