Vom Gletscher ins Schneckenhaus

Auch in seinem neuen Film „Code Inconnu“ untersucht Michael Haneke die Hilflosigkeit des Zuschauers angesichts der medialen Vermittlung von Gewalt. Schuld ist nur mehr eine Frage des Zufalls, der alltäglichen Wahrnehmung

Es gibt Situationen, in die möchte man nicht kommen. Etwa: Irgendwelche Irre dringen in dein Haus ein und quälen dich und deine Familie stundenlang. Man will es nicht erleben, und zusehen will man auch nicht. Michael Haneke liebt genau diese Situationen oder vielmehr das, was sich im Spiel mit der strukturellen Ohnmacht des Zuschauers damit erzeugen lässt. In gewisser Weise ist er situationistischer als alle, die das jemals von sich behauptet haben. Er konstruiert und konfrontiert, aber nicht aus Lust an der Grausamkeit oder dem Schrecken, den er damit im Kinosaal verbreitet. Dem Regie führenden Kulturkritiker geht es um die mediale Vermittlung, den Unterschied zwischen echter und inszenierter Gewalt, um das, was er schon vor Jahren als „Vergletscherung der Gefühle“ bezeichnet hat.

Noch ein Beispiel. Wer „Funny Games“ gesehen hat, weiß auch, wie Haneke den Kinospot gegen rechte Gewalt gedreht hätte. Empathie durch Grausamkeit: Den Angriff auf einen Farbigen hätte auch er nicht im Detail gezeigt, allerdings wären am Ende nicht die Neonazis, sondern wäre der Schwarze aus dem Zug gestoßen worden. Weil eben nie jemand aufsteht und etwas tut, der Zuschauer eingeschlossen.

Hanekes neuer Film, „Code Inconnu“, ist nun eine Ansammlung solcher Situationen. Jede ein Schock, jede eine eigenständige Versuchsanordnung, mit unterschiedlichen Verteilungen von Macht und Ohnmacht. Mit einer Konstanten, Haneke selbst. Sein Kino ist ein Aufstand des Anständigen, im Alltagsleben und in der Politik, analytisch konstruiert und anstrengend zu sehen. Und einen Film, der Ethik als Handeln formuliert bzw. Einmischung fordert, dreht man derzeit am besten in Paris. Da sitzen Neue Philosophen, die tun den ganzen Tag nichts anderes.

Situation 1: Ein gewissenloser Teenager wirft einer Bettlerin sein angefressenes Brötchen in den Schoß. Ein junger Farbiger verlangt mehrmals, dass er sich entschuldigt. Es kommt zum Handgemenge. Passanten gehen vorbei, Zeugen machen sich aus dem Staub. Die Polizei greift ein. Wer verhaftet wird, kann man sich denken.

Situation 2: Anne (Juliette Binoche) steht in einem leeren Raum. Eine Stimme fragt nach, ob sie auch kein Feuerzeug bei sich trage. Gas strömt in den Raum. Die Stimme erklärt in nüchternem Tonfall, dass sie nun sterben werde. Es gehe darum, ihr „wahres Gesicht“ zu sehen. Binoche gerät in Panik.

Situation 3: Anne bügelt. Binoche kann das nicht wirklich, es bleiben arge Falten. Nebenan wird ein Kind geschlagen. Sie bügelt weiter. Das Kind weint. Später wird es beerdigt.

Situation 4: Ein Paar vergnügt sich, alleine, auf dem 20. Stockwerk eines Hochhauses im Pool. Das Kind der beiden klettert aufs Geländer. Es verliert die Kontrolle. Die Eltern stürzen zu seiner Rettung herbei.

Situation 5: Anne wird in der U-Bahn belästigt, als arrogante Zicke beschimpft und angespuckt. Niemand hilft. Sie weint. Dazwischen werden die Episoden und Figuren miteinander verknüpft, alles hängt zusammen, ohne dass dies vordergründig eine Bedeutung hätte.

Was gehen uns die anderen an? Genau das ist die Frage, die Annes Freund, ein Kriegsfotograf, stellvertretend äußert. Der Gletscher ist dem Schneckenhaus gewichen. Wie kann man in feinen Pariser Restaurants tafeln, wenn auf dem Balkan der Krieg tobt? Eine Bekannte meint: „Deine Erfahrung kannst du mir mit deinen Bildern nicht vermitteln.“ Haneke geht es wie seinem rasenden Reporter. Die meisten seiner Schockbilder illustrieren treffsicher die schiere Hilflosigkeit. Mit Verurteilungen hingegen hält er sich diesmal wohltuend zurück. In „Funny Games“ wandte sich einer der Täter noch gelegentlich direkt an den Zuschauer, im Sinne von „Das willst du doch, oder?“.

Nun scheint Haneke begriffen zu haben, dass sich die Identifikation des Zuschauers (mit dem Opfer, dem Täter oder den Kollegen auf der Leinwand) auch durch suggestive Kameraführung nur bedingt steuern lässt. Haneke will nichts weiter, als dass wir uns, bitte mit moralisierendem Bindestrich, aus-setzen und ent-setzen. Uns mit ihm verbrüdern. Und weil wir das nicht wollen, aber auch nicht anders können, hat Haneke am Ende leider immer Recht.

Auch wenn der moralische Gestus weniger aggressiv daherkommt als in früheren Filmen: Wer das Leiden nicht sehen will, zumindest nicht so und nicht im Film, ist ein Positivist und Zyniker. Damit nimmt Haneke einem bewusst die Freude an den netten Seiten seines Films. Juliette Binoche geht in den Supermarkt und kauft ein Sixpack Coca-Cola. Juliette Binoche lacht sich beim Vorsprechen für eine Rolle halb tot. Und was eben selbst einem Regisseur wie Haneke so einfällt, wenn er mit dieser Schauspielerin arbeitet. Interessant und vertraut auch die filmischen Mittel dieses formal einmal mehr hervorragenden Films. Exzessive Schwarzblenden trennen die Kapitel. Wenn etwas gesagt ist, bricht Haneke die Szene ab, wenn es sein muss, mitten im Satz. Nur: Was hat er eigent- lich . . .? PHILIPP BÜHLER

„Code Inconnu – Ein unvollständiger Bericht verschiedener Reisen“.Buch und Regie: Michael Haneke. MitJuliette Binoche, Thierry Neuvic, Sepp Bierbichler, Alexandre Hamidi u. a., Frankreich 2000, 117 Min.