Schöne neue Digitale

Noch ist das Kino Wunschmaschine, doch inmitten der halbdigitalen Übergangsgesellschaft scheint das Ende der Projektionen nah: Heute Abend werden die 51. Filmfestspiele von Berlin eröffnet

von KATJA NICODEMUS

In zwanzig, dreißig Jahren werden sich die älteren unter uns wehmütig an das gute alte satte 35-mm-Kino erinnern. Tattrige Filmvorführer werden bei Veteranentreffen vorsichtig zerkratzte Zelluloidstreifen aus temperierten Sammlervitrinen kramen und die Tiefenschärfe bewundern. Was Cinemascope war, wird dann sowieso keiner mehr wissen, schon Fritz Lang fand ja, dass das Breitwandformat allenfalls für Schlangen und Beerdigungen taugt.

In zwanzig Jahren wird es keine Kinos mehr geben und keine auf der großen Leinwand angenehm entrückten Filmstars. Die Berlinale wird gerade noch schemenhaft als eine schwerfällige, alberne Repräsentationsmaschine in Erinnerung sein, bei der man tatsächlich noch Filme in Projektoren einlegte. Moritz de Hadeln, der zusammen mit Leonardo Di Caprio entlang an kreischenden Teenies zur Gala stapft, wird uns dann so fern und albern vorkommen wie der Baghwan im Rolls Royce oder Kaiser Wilhelm beim Abnehmen einer Militärparade.

In zwanzig Jahren gibt es kein Kino mehr im ursprünglichen Sinn, sondern viele, viele Macher, die alle mit kleinen Digi-Kameras ihre eigenen Bilder produzieren, im Computer bearbeiten, vernetzen oder per Miniscreen mit sich rumtragen. Man muss schon ein notorischer Kulturpessimist sein, um in dieser Entwicklung wieder nur die Gefahr der ewigen Verdopplung und Entfremdung zu sehen. Selbst ein neugieriger Theoretiker wie Paul Virilio unterstellte den elektronischen Bildern noch vor ein paar Jahren allein die Industrialisierung des Sehens, witterte überall Überwachungskameras, Maschinenfantasien und das Heraufziehen einer Pseudowirklichkeit. Dabei hat sich die Vision einer Sehmaschine ohne Ich ins Gegenteil verkehrt: Jedem Ich den eigenen Blick in einem unüberschaubaren, ja unendlichen Pool privater Bilder. Wenn das nicht demokratisch ist!

Natürlich bedeutet das Ende der Projektoren und des Projizierens auch das Ende der Projektionen, und das Kino wird keine Wunschmaschine mehr sein. Im Gegenteil, die digital aufgenommenen Bilder auch dieser 51. Berlinale entzaubern, profanisieren und entblößen mit einer Penetranz, die gewöhnungsbedürftig ist. Fritz Lang hätte wahrscheinlich der Schlag getroffen, wenn er die unscharfen Jump Cuts in Lars von Triers „Dancer in the Dark“ gesehen hätte. Oder Spike Lees ebenfalls digital gedrehten Film „Bamboozled“, der im Wettbewerb der Filmfestspiele läuft.

Bei Lee stellt sich eine grundsätzliche Frage der halbdigitalen Übergangsgesellschaft: Wann macht die neue Technik Sinn, und wann wird sie nur angewendet, weil sie gerade cool und irgendwie synonym mit der Filmmoderne ist?

Sein leidenschaftliches Pamphlet gegen den ganz alltäglichen Rassismus der amerikanischen Kulturindustrie hätte Lee jedenfalls genauso gut auf 35 mm drehen können, zumal er mit den kleinen Kameras keine Unmittelbarkeit oder besondere Nähe zu seinen Figuren provoziert. Fahle, an den Rändern unscharfe Einstellungen sind aber nun mal hip, und der fast schon propagandistischen Power des Films tun sie auch keinen Abbruch. Vielleicht entsteht durch die Videobilder auch gerade der zwitterhafte Status des Film, halb Kino, halb rotzig dahingeworfenes Anti-Kino, halb Tragödie, halb mit geballter Faust geschriebenes Thesenstück.

Interessanterweise erzeugen die blassen Bilder stets den Anschein einer gewissen Diskursivität und automatisch anderen Filmgrammatik, als zehre das Digitale immer noch vom intellektuellen Glamour von Lars von Triers Dogma-Manifest ( mit „Italiensk for Begyndere“ läuft im Wettbewerb die 12. Dogma-Produktion). Dabei wird die Authentizität und Unmittelbarkeit signalisierende Dogma-Ästhetik längst wie ein Pawlowscher Reflex eingesetzt, wenn die Kamera in jeder Magazinsendung hektisch in die Ohrmuschel des Studiogastes hineinfährt.

„Das Digitale ist die Herausforderung des neuen Kinojahrzehnts“, verkündete der designierte Berlinale-Leiter Dieter Kosslick vor ein paar Tagen bei einer Diskussionsveranstaltung in Berlin. Schön, dass der neue Boss die Zeichen der Zeit erkannt hat. Wobei der Umgang mit der nicht mehr ganz so neuen Technik Kosslicks zukünftiges Festival schon jetzt vor erhebliche, auch logistische Probleme stellt. Vor allem für junge Regisseure bieten die kleinen flexiblen Kameras, die fast kein Licht und keinen größeren Drehstab brauchen, eine Möglichkeit, extrem billig und ohne zwischengeschalteten Produzenten zu drehen. So gibt es quasi keinen materiellen Widerstand mehr gegen die Ideen (der ja manchmal auch strukturierend wirken kann), und die Ergebnisse wandern so unbekümmert wie massenweise zum nächstbesten Festival.

Allein im Panorama wurden in diesem Jahr aufgrund der Digiflut 200 Filme mehr als im letzten Jahr eingereicht. „Darunter war auch unendlich viel Beliebiges“, meint Panorama-Leiter Wieland Speck, der insgesamt sechs digitale Produktionen ins Programm nahm. Vorgeführt werden sie allerdings aufgeblasen, das heißt auf 35 mm umkopiert. Speck räumt ehrlich ein, dass er erst seine Vorurteile gegen die neue Technik überwinden musste. „Ohne ein Mindestmaß an Formbewusstsein wirkt das alles schnell geschwätzig, aber in den Mediensatiren, amerikanischen Demaskierungen und abgründigen Privattrips, die wir zeigen, funktioniert es.“

Angesichts einer inzwischen weltweiten Entkonventionalisierung des Kinos und seiner gleichzeitigen Theoriefähigkeit durch Dogma, wirkt die immer noch auf der alten Abgrenzung der Trägermedien beruhende Videoreihe des Forums irgendwie rührend antiquiert. Als Wohnzimmer der weltgrößten Dokumentar- und Experimentalfilmlegenden hat die Sektion ein wenig den Anschluss an die wild vor der Haustür herumfilmende Jugend verpasst. Auf einem Nachwuchs- und Abschlussfilmfestival wie Saarbrücken waren in diesem Jahr einige digitale Produktionen zu sehen, die durchaus besser in die avantgardistische Selbstdefinition des Forums gepasst hätten, als, sagen wir mal, der fünfhundertste Dokumentarfilm über Eisenstein.

Aber vielleicht ist das Ganze nicht nur eine simple Generationenfrage, sondern auch überzeugte Widerständigkeit gegen den in Sachen Bildqualität weiß Gott nicht überzeugenden Zeitgeist. Forumsleiter Ulrich Gregor, der demnächst seinem Nachfolger Christoph Terhechte Platz machen wird, setzte sich zum Beispiel dafür ein, dass in seinen Berlinale-Kinos noch Projektoren für 16 mm eingebaut wurden, das klassische Format der Essay- und Dokumentarfilmer. „As I was moving ahead occasionally I saw brief glimpses of beauty“ ist der Titel eines fünfstündigen Films der amerikanischen Experimentalfilmlegende Jonas Mekas, den das Forum zeigt. Privates Fotoalbum und melancholischer Tagebuchfilm, privat gewendete Geschichte. Brief glimpses of beauty – die Schönheit des einzelnen Filmbildes, Licht, Schatten, Tiefenschärfe, Kontraste und ein Kind, das irgendwo auf einer leuchtend grünen Wiese seine Hand gegen die Kamera hält.

Peinlich sind die Oportunisten. Regisseure, die noch auf 35 mm drehen, dabei mit der völig unvermittelt rumgerissenen Handkamera und ein bisschen Gewackel auf irgendwie modern machen und damit doch nur zeigen, dass sie den Anschluss völlig verpasst haben. Patrice Leconte zum Beispiel, dessen Wettbewerbsbeitrag „Felix et Lola“, eine altbackene Männerfantasie mit Charlotte Gainsbourgh, durch seine pseudojuvenilen Formspiele noch viel altbackener wirkt. Als würde ein alternder Playboy eine CD von Robbie Williams kaufen, um ein Girlie anzubaggern.

Natürlich wird die Erzählung des klassischen Kinos durch die Syntax des Digitalen verändert. Aber dann lieber so wie in „Traffic“. In Steven Soderberghs amerikanisch-mexikanischem Gesellschaftspanorama um Drogenhandel und Drogenpolitik, Crack rauchende Teenies und schönredende Senatoren, gibt es sie auch, die irritierenden Anschlüsse, Sprünge, elektronischen Verfremdungen. Aber Soderbergh geht es um eine tranceartige Gleichzeitigkeit, um Bilder, die sich zu einem Fluss verbinden, gerade weil jedes einzelne mit unglaublicher Tiefenschärfe für sich steht. Für jemanden, der sein Handwerk so perfekt versteht wie Soderbergh, ist es völlig egal, ob das Kino der Zukunft digital, peridural oder atonal daherkommt

Heute beginnt die 51. Berlinale mit Jean-Jacques Annauds Stalingradspektakel „Enemy at the Gates“. 180 Millionen Mark, wogende Statistenmeere, Schlachten und Kanonen so weit das Auge reicht. Dinosaurierkino. Über dem Kadaver schwirren schon die kleinen Digi-Kameras.