Moral kommt aus dem Fernseher

Aufschneiden, zunähen, verbinden: Lucrecia Martel hat für ihren Debütfilm „La Cienaga“ (Wettbewerb) einen seltsam kreatürlichen Rhythmus gewählt. Während die Menschen auf eine Chance in ihrem Leben hoffen, verwesen Kühe im Wald

von KATJA NICODEMUS

Es zeugt nicht von Zynismus, sondern von empirischen Werten, wenn man am Anfang der Berlinale in der stiefmütterlichen Frühschiene um 9 Uhr von einem argentinischen Wettbewerbsbeitrag nicht die Welt erwartet. Mit „La Cienaga“, dem Regiedebüt der Regisseurin Lucrecia Martel, wird man aus der bleiernen Morgenmüdigkeit allerdings urplötzlich in einen ganz anderen Lähmungszustand überführt.

Man weiß nicht, wer da mit Sonnenbrillen und verrutschten Kleidern an wessen Pool lungert. Aber die ganze Entourage ist ein Haufen, der schon seit hundert Jahren mit Wein und Cognac an den Liegestühlen zu kleben scheint. Die Atmosphäre drückt, die Wolken hängen tief. Irgendwann durchstößt den Alkoholnebel ein fallendes Glas. Eine schwankende Frau verletzt sich schwer an den Scherben, ohne dass die anderen davon groß Notiz nähmen. Im nahen Wald versinkt eine Kuh im Morast.

Der Februar im Nordwesten Argentiniens ist schwül. So schwül, dass man die Zeit am besten auf dem Land verbringt. So wie Mecha, eine Mutter um die fünfzig, und ihre Familie. Die Kinder springen durch den Wald oder baden im trüben, vielleicht schon fauligen Wasser des Pools. Das Dienstmädchen scheint nicht mehr ganz bei der Sache, und die Töchter sind mächtig am Pubertieren. „Nichts funktioniert mehr“, findet Mecha und schenkt sich noch einen nach.

Einschenken, trinken, ausschwitzen, einschlafen, aufwachen. Der Lebensrhythmus einer ewig mit der Sonnenbrille durchs Haus schleichenden Frau legt sich über den gesamten Film. Aber in „La Cienaga“ ist das Trinken nur eine von vielen Strategien, mit der unbestimmten Sehnsucht klarzukommen, aus der das Leben manchmal besteht. Man kann sich auch die Haare färben wie Mechas Mann, das Dienstmädchen anhimmeln wie ihre Tochter oder von einem unbeschwerten Cousinen-Ausflug ins nahe gelegene Bolivien träumen.

Es sind merkwürdige Weitwinkelaufnahmen und angeschnittene Bilder, die davon erzählen, dass hier etwas aus dem Gleichgewicht gekommen ist oder nie im Gleichgewicht war. Und die kleinen Narben in den Gesichtern der Kinder. Es wird viel gestürzt und geschnitten in diesem Film. Aufschneiden, zunähen, verbinden – ein anderer kreatürlicher Rhythmus.

„La Cienaga“ ist ein merkwürdig physischer Film, ohne dass es besondere Berührungen gäbe. Die Körperlichkeit hat mehr damit zu tun, wie die Menschen in der Hitze beieinander liegen, sich anschauen, Hunde streicheln oder Fische erschlagen. Dabei liegt ein inzestuöses Grundgefühl in der Luft, das keine besondere Bedeutung hat und schon gar keinen unmoralischen Beigeschmack. Moral ist was für den ununterbrochen laufenden Fernseher. Da wird gepredigt und gesungen, und Hausfrauen erzählen, wie ihnen über dem Wasserspeicher die Jungfrau Maria erschienen ist.

So wie man weiß, dass Tschechows Schwestern nie nach Moskau fahren werden, ahnt man, dass auch der Shopping-Ausflug nach Bolivien nie stattfinden wird. Aber vielleicht hilft der Gedanke daran über das unbestimmte Warten hinweg.

Man kann Lucrecia Martels Film aufladen, zur Metapher einer gelähmten Gesellschaft oder zur existenzialistischen Seelenschwitzerei. Dabei ist alles ganz einfach: Draußen spielen die Kinder, und im Wald verwest ganz langsam die Kuh.

„La Cienaga“. Regie: Lucrecia Martel. Argentinien, 110 Min.