„Das ist wie bei einer Sekte“

„Ausstieg bedeutet Bruch mit der Ideologie. Schily betreibt Aktionismus.“

Interview JULIA NAUMANN

taz: Sie waren fast zehn Jahre in der rechtsextremen Szene als „Schreibtischtäter“, wie Sie selbst sagen, aktiv. Sie sind dann ausgestiegen. Warum?

Jörg Fischer: Ausschlaggebend waren die Bilder von Hoyerswerda, die ich 1991 im Fernsehen gesehen habe, und die Reaktionen der Kameraden und hohen Funktionäre von NPD und DVU darauf. Die waren sehr begeistert darüber, dass junge Deutsche endlich mal die Sache in die Hand nehmen und dass die Bevölkerung applaudiert.

Warum haben Sie nicht mitgefeiert? Die Pogrome waren doch die logische Konsequenz dessen, was Sie jahrelang propagiert hatten.

Es war schrecklich, diese Gewalt plötzlich so konkret mitzuerleben. Ich habe erstmals gesehen, was diese Ideologie bewirkt. Das habe ich vorher immer verdrängt.

Gab es noch andere Gründe, auszusteigen?

Die neonazistische Szene propagiert den biologischen Überlebenskampf der Deutschen. Da fall ich raus: Ich bin schwul. Es gab zwar einige Kameraden, mit denen ich Sex hatte, aber das war total versteckt. 1991 bin ich das erste Mal in eine schwule Bar gegangen und habe gemerkt, dass man auch offen schwul sein kann. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich habe gespürt, dass ich so nicht weiterleben kann. Da habe ich meinen Kameraden gesagt, dass ich Abstand brauche und zu mir selbst finden muss.

Gab es Momente, in denen Sie zurückkehren wollten?

Ja, ich wollte öfters zurück, denn ich hatte dort neun Jahre meines Lebens verbracht. Ich hatte alle meine Freunde dort. Es gab auf einmal niemanden mehr, mit dem ich ein Bier trinken konnte. Es war vergleichbar mit dem Ausstieg aus einer Sekte.

Heute bezeichnen Sie sich als Antifaschisten. Sie wirken bei Vorträgen und Seminaren sehr authentisch. Als Neonazi waren Sie genauso glaubwürdig. Wie ist ein solch krasser Wechsel möglich?

Mein Gehirn ist keine Festplatte, die ich so einfach löschen konnte. Wenn es ganz schnell passiert wäre, würde ich das auch nicht verstehen. Es hat mindestens ein Jahr gebraucht, bis ich mir sicher war, dass ich nicht zurückkomme. Es war für mich wahnsinnig schwierig, einzugestehen, dass ich Fehler gemacht habe. Ich habe mich als Mensch in Frage gestellt. Erst nach vier Jahren habe ich mich öffentlich als Exnazi geoutet.

Sie haben kein Aussteigerprogramm gebraucht. Innenminister Schily glaubt, dass ein Teil der Neonazis aussteigen würde, wenn man bei der Job-und Arbeitssuche hilft und ihnen ein neues soziales Umfeld verschafft.

Ganz spontan hab ich gedacht, ohne Wohnung würde ich jetzt wieder in die NPD eintreten, um mich dann an einem Aussteigerprogramm zu beteiligen. Aber Schily will ja an die Kader ran. Das sind keine Sozialfälle mit Geldproblemen. Schily zielt darauf, dass nur Verhaltensauffälligkeiten wie das Outfit, verbale Äußerungen und Gewalttaten abgestellt werden. Die politische Gesinnung kommt überhaupt nicht zur Sprache. Ein Ausstieg bedeutet nicht, dass ich meine Haare länger wachsen lasse, umziehe und die Bomberjacke wegschmeiße, sondern bedeutet einen Bruch mit der Ideologie. Schily betreibt Aktionismus.

Durch das Programm soll hohen Funktionären möglichweise auch eine neue Identität verschafft werden.

Wenn ein Neonazi sich bloß zurückzieht und unpolitisch wird, dann ist er keinerlei Bedrohungen ausgesetzt. Da kommen nicht die Kameraden und hauen ihm die Bude ein. Wenn jemand allerdings zum Verfassungsschutz geht und auspackt, dann muss er schon ein bisschen aufpassen. Dann wird man schnell Objekt von Rache, das kann im Extremfall bis zum Mord reichen.

Wurden Sie jemals bedroht?

Nicht tätlich. Als ich rausgegangen bin, bezeichneten mich Kameraden und Freunde als Fahnenflüchtigen. Als ich meine erste Veranstaltung im Frühjahr 1996 gemacht habe, bin ich zum Verräter befördert worden. Als ich mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Paul Spiegel, im vergangen Jahr in einer Talkshow aufgetreten bin, wurde ich auf Internetseiten als „Knecht des Weltjudentums“ beschimpft.

In Deutschland gibt es bundesweit 150 Kameradschaften, die zwischen 5 und 50 Mitglieder haben. Ist es dort schwieriger, auszusteigen, als aus einem Parteiapparat wie der NPD?

Der soziale Druck in den Kameradschaften ist wesentlich höher, weil sie konspirativer organisiert sind. Da ist die Motivation der Kader sehr hoch, dass die Kameraden nicht abhauen und plaudern. In einer Kameradschaft wird der ganze Mensch gefordert. Die Ideologie durchdringt das ganze Leben, den Sprachgebrauch, die Kleidung, die Musik.

Schily hofft, dass durch Aussteiger die Szene verunsichert und geschwächt wird.

Wenn Kader aussteigen, kann es passieren, dass Kameradschaften sich auflösen. Doch sie werden sich neu organisieren. Das war so beim Verbot der Wiking-Jugend oder der Freiheitlichen Arbeiterpartei. Die Leute sind zur NPD gegangen und noch gewalttätiger aufgetreten.

Wären nicht auch Rechtsextreme im Gefängnis Zielgruppe für ein Aussteigerprogramm?

Die Rechtsextremen gehen ideologiegestärkt aus den Knästen heraus. Die Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG) darf ungehindert in Gefängnissen arbeiten. Die HNG ist ein eingetragener Verein, Schily könnte ihn sofort verbieten. Das wäre ein tatsächlicher Schlag gegen die Szene. Die HNG hält die Gefangenen bei der Stange und hilft ihnen nach dem Knastaufenthalt, wieder in die Szene einzusteigen.

Was muss passieren, dass sich bei Neonazis das Weltbild ändert?

Aussteigen können nur die, die es freiwillig machen. Gerade in Ostdeutschland schließen sich viele der rechten Szene an, weil sie sozialen Anschluss suchen. Diesen Leuten muss ein demokratisches Weltbild vermittelt werden. Das heißt erst einmal zuhören. Man muss nachvollziehen, warum sie so denken, wie sie denken. Dann kann man eingreifen und Hilfestellungen geben, sich loszulösen.

Wie könnte die aussehen?

Ihnen muss die Angst vor dem Fremden, der Andersartigkeit genommen werden.

Sie sollen beim Berliner Aussteigerprogramm „Exit“ als Berater fungieren. Brauchen Neonazis Vorbilder?

Ich denke, schon. Die Sozialarbeiter können lang erzählen, dass ein Leben nach dem Ausstieg möglich ist. Wenn man einen Menschen hat, der das vorlebt, dann ist das viel effektiver. An jemanden wie mich können sie sich wenden. Ich verstehe die Zweifel und Probleme, die Angst, das ganze Leben in Frage zu stellen.

Was ist an Exit glaubwürdiger als bei dem Programm des Innenministeriums?

Die Menschen müssen selbst zum Telefon greifen und bei Exit anrufen. Es ist ein Programm, das Hilfe zur Selbsthilfe vermittelt. Diejenigen, die es initiiert haben, haben sich schon sehr lange mit dem Thema Rechtsextremismus auseinander gesetzt, nicht erst seit es Konjunktur geworden ist. Sie setzen auf kontinuierliche Arbeit. Sie verstehen sich nicht als zentrale Anlaufstelle für Job-oder Wohnungsvermittlung. Sie wollen helfen, Menschen in die demokratische Gemeinschaft zu reintegrieren, nicht aufgrund des Verhaltens, sondern aufgrund innerer Überzeugung.

Das ist wenig fassbar.

Natürlich kann man da kein Messgerät aufstellen. Der Ausstieg muss alle Bereiche umfassen. Es darf nicht nur darum gehen, was der Mensch für ein Bild von Einwanderern bekommt. Sie müssen auch mal Widersprüche aushalten, zum Beispiel, dass Einwanderung auch problematisch sein kann und dass nicht alle Ausländer an sich gute Menschen sind.

Bisher haben sich bei Exit überwiegend potenzielle Aussteiger aus dem Westen gemeldet. Woran liegt das?

Der Druck und der Widerstand sind im Osten viel höher. Ich denke, das liegt daran, dass die rechte Alltagskultur sehr stark verbreitet ist. Hier müssen wir uns noch viel mehr Gedanken darüber machen, wie wir die knacken.

Was könnte das sein?

Wir müssen eine humanistische Gegenkultur schaffen, die sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausweitet.

Ein großes Wort.

Ich weiß. Und schwierig umzusetzen. Es geht um den konkreten Alltag der Menschen und nicht darum, ob in Berlin 200.00 Menschen demonstrieren. Aber wie man Schläger resozialisieren soll, die vielleicht schon einen Menschen totgetreten haben, weiß ich auch nicht. Zum Ausstieg braucht es schon ein bisschen Intelligenz.