Arithmetisch in die Eskalation

Wenn Blut und Scheiße zur Tinte werden: Philip Kaufmans Film „Quills – Macht der Besessenheit“ macht die letzen Tagen des Marquis de Sade zur Reflexion über künstlerische Freiheit und Zensur. Dabei wird der menschliche Körper zur ersten Inspiration und zum letzten Medium von Kunst

von ANKE LEWEKE

Da ist sie schon, die Off-Stimme, die uns eine kleine, unanständige Geschichte verspricht. Auch sonst passt alles ins de Sade’sche Bild: ein Mädchenkopf, lustvoll stöhnend, ein tief dekolletierter Ausschnitt, große Männerhände, die sich des jungen Körpers bemächtigen. Und er, der Marquis höchstpersönlich, schaut von oben dem Spektakel zu, nimmt dann mit süffisantem Blick den Zuschauer ins Visier.

Bereits mit der Eröffnungssequenz macht der Zeremonienmeister des Perversen uns zum Zeugen, Mitstreiter, Beteiligten, während ein Film seine Haltung zum Betrachter offen legt. Hier wird nicht nur ein irreführendes und variantenreiches Spiel mit Reflexen und Reaktionen getrieben, sondern die Rezeption gleich zum aktiven Bestandteil eines künstlerischen Werks erklärt. So erweist sich die anfängliche Erregung nicht unbedingt als eine wollüstige, wenn die Kamera den Blick auf eine grölende Menge frei gibt, die der Hinrichtung Marie Antoinettes entgegenfiebert (der abgetrennte Kopf ist übrigens das Original aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett).

Nicht nur in der Hinterfragung des lüsternen Zuschauerblicks liegt der perfide Kunstgriff der ersten Szene, in fast beiläufiger Selbstverständlichkeit bringt sie das Werk des obszönen Philosophen in einen adäquaten Kontext. „Ich habe das Böse gesehen“, wird Philip Kaufmans Marquis später sagen, damit auf die Französische Revolution und ihre Auswüchse anspielen. Mit einer Hand voll solcher gut gesetzten Bemerkungen bestätigt Doug Wrights Drehbuch de Sades mechanische Auskonstruktion perverser Fantasien auch als Auseinandersetzung mit seiner Zeit. Mit diesem Grundverständnis hat Kaufman keinen Film über de Sade gedreht, sondern er nimmt die Figur (ohne jemals ihre Freigeistigkeit einzugrenzen) als Medium für eine Reflexion über Kunst und ihre Rezeption, künstlerische Freiheit und Zensur. Dabei geht es in diesem sinnlichen Konversationsstück vor allem um die Macht des Wortes – und die hat Geoffrey Rush.

Sein Marquis ist die Inkarnation von de Sades Prinzip des unumschränkten Egoismus. Eingesperrt in der Irrenanstalt Charenton, besteht seine Lust darin, eine Obszönität nach der nächsten zu verfassen und die Obrigkeit damit zu provozieren – auch auf Kosten der anderen Insassen. Mit unerbittlichem Fatalismus zwingt er das System zu immer rigideren Strafen, um in den verordneten Maßnahmen sogleich die Fratze des Bösen aufzudecken (die in Michael Caine einen wunderbaren Vertreter findet).

Gleichzeitig stilisiert der Film diesen Berserker der Schrift zum romantischen Helden. Kaufman zeigt den Körper als erste Inspiration und letztes Medium von Kunst: Seiner Quills (Federkiele) beraubt, schreibt de Sade mit dem eigenen Blut, der eigenen Scheiße und nimmt mangels Papier sich selbst und die Wände seines Verlieses zur Schreibgrundlage. Die Auffassung vom Künstler als getriebener Persönlichkeit wird bis zur totalen Entblößung durchexerziert, während sich die Kunst fast unaufhaltsam ihren Ausdruck verschafft. Auf dem Laken, das im Werk de Sades gerade noch Schauplatz unzüchtiger Spiele war, werden eben diese jetzt schriftlich festgehalten, mit der dreckigen Wäsche des Marquis aus der Zelle geschmuggelt und dem Verleger übergeben.

Nicht nur im Veräußerlichungsdrang von Kunst sowie in der Aneinanderreihung der Bestrafungsmethoden übernimmt der Film de Sades arithmetische Steigerungen. Auch die Wirkung auf die Rezipienten spielt Kaufman immer wieder in Versuchsanordnungen durch und lässt dabei verschiedene Lesarten zu. Wenn die naive Waschfrau Madeleine (Kate Winslet) nachts heimlich aus den Schriften des Marquis vorliest, ist es dann das Verbot oder der Sinn der Worte, der stimulierend wirkt? Ist es die allzu züchtige Erziehung, oder sind es doch de Sades Schriften, die aus der jungen Simone eine leidenschaftliche Libertine machen? Lenkt Madeleine mit den Büchern nicht von der eigenen Lust ab, die sie mit dem angebeteten Abbé Coulmiet (Joaquin Phoenix) nie ausleben kann?

Wenn im großen Showdown dann die Macht der Worte und die Macht der Autoritäten immer heftiger aneinander geraten, driftet „Quills“ leider in eine merkwürdige Eindeutigkeit ab. Während de Sades mathematische Körperpartituren dem bodenlosen Abgrund entgegensteuern, setzt Philip Kaufman Schlusspunkte. In der letzten Versuchsreihe nimmt der Wahnsinn konkrete Ausformungen an. Bei einer Art stillen Post flüstert de Sade den anderen Gefangenen seine lüsternen Worte zu. Am Ende der Kette sitzt Madeleine, die alles fein säuberlich notiert. Jeder der Spieler wird die Sätze zwar noch mit seinen Fantasien auffüllen, doch plötzlich scheinen de Sades Obszönitäten ursächlich für die Gewaltausbrüche einiger Insassen. Hier verliert Kaufmans Film seinen diskursiven Charakter. Aber vielleicht will der Regisseur mit dem allzu banalen Ende auch einfach an die dumpfbackene Diskussion in den Staaten anknüpfen, die die Kunst immer wieder zum Hauptschuldigen für Gewalt erklärt.

„Quills“. Regie: Philip Kaufman. Mit Geoffrey Rush, Kate Winslet u. a. USA 2000, 123 Min.