Der Begriff Vergangenheitsbewältigung

Es ist an der Zeit, sich Gedanken über die Ursachen des ausufernden Erinnerungskults zu machen: Das Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien hat eine illustre Gruppe von Geschichtsforschern in das revitalisierte Palais Ferstel eingeladen, um über „The Memory of the Century“ zu diskutieren

von CHRISTIAN SEMLER

Vorsichtshalber gab das Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen seiner Tagung vom letzten Wochende einen englischen Titel: „The Memory of the Century“. „Memory“ für das Gedächtnis des vergangenen 20. Jahrhunderts und zugleich als Bezeichnung für Erinnerung. Eine glückliche Themenwahl, war es doch an der Zeit, sich den Kopf über die Schwemme der öffentlichen Gedenkfeiern zu zerbrechen, die uns mittlerweile bei jedem Jahrestag wichtiger Ereignisse heimsucht, über die Ursachen des Erinnerungskults.

Was wird vergessen?

Und war es nicht Zeit, der Frage nachzusinnen, wie eigentlich Geschichte und Geschichtsschreibung zur erinnerten Geschichte stehen? Verlieren die Historiker ihre Interpretationshoheit, und ist das gut oder schlecht? Gibt es, wie der Philosoph Paul Ricoeur es in Wien formulierte, die Gefahr eines Missbrauchs der „Commemoration“ , also des kollektiven Gedenkens? Schließlich: An was wird erinnert, und welche Taten und Untaten ist man geneigt zu vergessen?

Um es vorwegzunehmen, die Tagung lieferte eine ausgezeichnete Grundlage für die Bearbeitug der Sorgen, die heute professionelle Vergangenheitsvermittler quälen. Die Last der Referate wurde fast ausschließlich von betagten bis hochbetagten Gelehrten getragen, wenn man von dem jungen Spund Timothy Garton Ash –1955 geboren – absieht. Ash, der bekannte Publizist und Historiker mitteleuropäischer Zeitgeschichte, verblüffte das Publikum anlässlich einer Erläuterung des Begriffs „Vergangenheitsbewältigung“ mit 8 Kriterien, 10 praktischen Ansätzen und 40 hierfür in Frage kommenden Ländern. Ergebnis ihre Verbindung wäre eine Matrix von 2.400 Fällen, auf deren Aufzählung Ash allerdings dankenswerterweise verzichtete.

Frauen ohne Gedächtnis

Man sah auf der Tagung zudem keine einzige weibliche Gedächtnisspezialistin auf dem Podium. Offensichtlich nimmt die Kompetenz von Frauen für Probleme der Gedächtnisarbeit progressiv ab, je weiter der Tagungsort sich nach Europas Osten verschiebt. Aber immerhin: Die berühmten Altvorderen, die referierten, sie hatten durchwegs Gewichtiges zu sagen.

Das traf vor allem auf Pierre Nora zu, den führenden französischen Spezialisten für das historische Gedächtnis, auf den amerikanischen Historiker Charles Maier, der über „heiße“ und „kalte“ Erinnerung im Vergleich faschistischer und kommunistischer Regime referierte, und auf Yehuda Bauer, der in einem fulminanten Vortrag die institutionalisierte Holocaust-Erinnerung verteidigte.

Historisch weit ausholend legte Pierre Nora dar, wie im Frankreich der 70er-Jahre die große einheitliche nationale Geschichtserzählung zerbrach. Dafür gibt es nach ihm drei Gründe: Veränderungen in der materiellen Basis der Gesellschaft, vor allem das Verschwinden des Bauerntums. Dann die Zerstörung eines progressiven Zeitbegriffs und der Zukunftszuversicht nach dem Absturz des Marxismus und schließlich die Demokratisierung der Beschäftigung mit der Geschichte. Denn jetzt schreiben bislang ausgeschlossene Gruppen und Minderheiten ihre Version, und das erfahrene, aufgehäufte Leid wird für sie wahrer, als es die Wahrheit als Resultat des überkommenen wissenschaftlichen Kanons der Geschichtsschreibung sein kann. Während die Zukunft als total unsicher empfunden wird, gewinnt die Tradition wieder ihren geheimnisvollen, unergründlichen Charakter. Dann aber die Warnung Pierre Noras: Gedächtnis kann zum Gefängnis werden und die Anrufung des Gedächtnisses kann zum Aufruf zum Mord degenerieren.

Charles Maier wie auch der französische Historiker Alain Besançon widmeten sich der heiß umstrittenen Frage, warum an der Holocaust ständig erinnert, der Gulag hingegen so leicht vergessen wird. Die nazistischen Mordaktionen, so Maier, waren zielgerichtet, die sowjetischen konnten jeden treffen, sie waren stochastisch, zufallsbedingt, deshalb ist die Erinnerung an sie kalt.

Nutznießer wie Opfer

Dieser stochastische Terror betraf potenziell alle, es gab keine Zuschauer, es gab zwar massenhaft Komplizenschaft, Karriereschübe, Bereicherung, aber keine Komplizenschaft durch Untätigkeit. Damit aber entfällt eine bohrende Frage, die die „heiße“ Erinnerung an den Holocaust aufwirft: Wie hätte ich mich verhalten, hätte ich Widerstand geleistet oder wäre nur Zuschauer geblieben? Diese Frage stellte sich weniger die Generation der Beteiligten, wohl aber produziert sie für jede der nachfolgenden Generationen ein sehr starkes, peinigendes Gefühl: das der Scham. Scham aber ist etwas, was angesichts der sowjetischen Verbrechen kaum empfunden wird. Fehlte doch in der Stalinzeit die Möglichkeit, sich für oder gegen den Widerstand zu entscheiden, und waren doch nahezu alle sowohl Nutznießer als auch potenzielle Opfer.

Yehuda Bauer schließlich sprach von dem sozialen Trauma des Holocausts bei Juden gänzlich unterschiedlicher Weltanschauungen. Bauer behauptete, die Schoah sei stets und immer für das Judentum der Nachkriegszeit zentral gewesen, und wandte sich damit vor allem gegen jüngst in den USA geäußerten Thesen vom gemachten, künstlichen Charakter einer jüdischen Holocaust-Ersatzidentität. Er verteidigte die universelle Bedeutung des Holocaust, damit aber auch der Formen der Beschäftigung mit ihm, die in den USA von der Holocaust-Erziehung bis zur Errichtung des Washingtoner Holocaust-Museums reichen. Bauers Auffassungen blieben nicht ohne Widerspruch, freilich litt die Diskussion darunter, dass der große Antipode, der amerikanische Historiker Novick, leider an der Teilnahme verhindert war.

Enttäuschende Vagheit

Gegenüber diesen bedeutenden Referaten samt den sich anschließenden Kommentaren und Diskussionen blieb etwas blass, was zur konkreten Politik der Vergangenheitsbewältigung ausgeführt wurde. Weithin bekannte Grundpositionen wurden wiederholt, wie Joachim Gaucks demokratietheoretische Fundierung der Akteneinsicht für die Opfer der Staatssicherheit oder die Kritik des ehemals führenden demokratischen Oppositionellen Adam Michnik an ebendieser Praxis. Seiner auch in Wien geäußerten Meinung nach sind die Akten der realsozialistischen Geheimdienste für die Wahrheitsermittlung untauglich, ja gefährlich. Enttäuschend auch die an Diskussionsverweigerung grenzende Vagheit, mit der Adam Michnik und sein polnischer Kollege Aleksander Smolar eine Vergangenheitsdiskussion behandelten, die gegenwärtig Polen erschüttert: die Ermordung der jüdischen „Mitbürger“ durch die polnischen Einwohner des Städtchens Jedwabno im Sommer 1941.

Am ehesten anregend fürs weitere Nachdenken wirkte noch die Mahnung Alex Boraines, des Vizechefs der südafrikanischen Wahrheitskommission, wonach zur „Aufarbeitung“ wesensgemäß auch die materielle Rehabilitierung der Opfer gehört, das heißt, die durch die Apartheid verursachten zusätzlichen sozialen und materiellen Enteignungen müssen rückgängig gemacht werden.

Was die Tagespolitik, speziell den Standort Wien anlangt, hatten sich die Kongressveranstalter etwas Raffiniertes einfallen lassen. Sie hatten den Bundeskanzler Schüssel nicht für ein einfaches Grußwort, sondern zum Referat über Gedächtnis und Identität in Österreich eingeladen. Schüssel sagte kurzfristig ab. Zu diesem Vorfall steuerte Fritz Stern, einer der großen anwesenden Alten, eine Anekdote bei. Als Talleyrand auf dem Wiener Kongress vom plötzlichen Tod eines russischen Kongressteilnehmers erfuhr, bemerkte er: „Was wollte uns dieser Mann damit sagen“?