„Nicht zwingend nachvollziehbar“

Der SPD-Sozialexperte und Jurist Olaf Scholz ist vom Urteil des Bundesverfassungsgerichtes überrascht und sieht es kritisch: „Auch unfreiwillig Kinderlose werden ungleich behandelt“

taz: Was wird sich nach dem Urteil bei den Sozialversicherungen ändern?

Olaf Scholz: Zunächst mal bezieht sich das Urteil nur auf die Pflegeversicherung, und das Gericht hat ja eine längere Frist vorgegeben, in der man prüfen kann, was das für Folgen haben soll. Für die Pflegeversicherung wird das sicherlich Konsequenzen haben.

Und für die anderen Versicherungen? In der Rente gibt es ja schon Anrechnungszeiten für Kindererziehung. Aber was ist mit den Krankenkassen?

Bisher gibt es schon die Mitversicherung von Familienangehörigen, die geht über das hinaus, was an Beiträgen gezahlt wird. Man darf jetzt nicht hektische Schlussfolgerungen ziehen aus dem Urteil. Es kann sein, dass man außer in der Pflege in den anderen Versicherungszweigen keinen Korrekturbedarf sieht.

Das Gericht ist ziemlich weit gegangen. Macht das Bundesverfassungsgericht neuerdings Sozialpolitik?

Auch als Jurist habe ich das Gefühl, dass nicht zwingend nachvollziehbar ist, dass sich aus der Verfassung ergibt, was das Gericht da geurteilt hat.

Sie meinen, Kinderlose und Eltern werden in der Pflegeversicherung nicht ungleich behandelt?

Ich meine, diese Frage zu entscheiden ist Politik, und die ist von Wählern, von der öffentlichen Meinung, von Parlamenten zu machen. Es ist immer zu unterscheiden, was eine Wertungsfrage ist, was eine rechtliche Frage und was Politik ist. Wir müssen uns davor hüten, dass zu viele Sachen für rechtlich vorgegeben gehalten werden.

Aus der Verfassung lässt sich also nicht notwendigerweise eine Ungleichbehandlung von Eltern und Kinderlosen ableiten?

Das finde ich.

Auch wer unfreiwillig kinderlos ist, muss nun vielleicht bald höhere Beiträge für die Pflegeversicherung entrichten, als Eltern bezahlen müssen. Werden nach dem Urteil unfreiwillig Kinderlose ungleich behandelt?

Die werden auch ungleich behandelt. Man kann sicherlich noch viele andere Erwägungen dieser Art anstellen, was für das Argument spricht, dass das ein politisches Thema ist und keines, das sich für eine gerichtliche Betrachtung eignet. Ich wäre nicht so weit gegangen wie das Gericht. Ich halte das juristisch für eine überraschende Lösung.

INTERVIEW: BARBARA DRIBBUSCH