Die Dänen bleiben unberechenbar

Morgen stimmen die DänInnen über die EU ab: zum fünften Mal. Niemand kann ganz genau sagen, worüber eigentlich abgestimmt wird. Beim letzten Mal lehnte die Mehrheit den Maastricht-Vertrag plötzlich ab  ■ Von Reinhard Wolff

Stockholm (taz) – Morgen ist es mal wieder soweit. Die DänInnen halten EU-Volksabstimmung. Sie haben das verfassungsmäßige Recht dazu bei jedem weiteren Schritt, der nationale Souveränität abgibt. Und diesmal heißt dieser Schritt: Amsterdam. Die Umfragen signalisieren ein deutliches Ja, etwa in der Gegend 55 zu 45 Prozent. Doch das taten die Umfragen auch vor sechs Jahren, als es um Maastricht ging und ein ganz unerwartetes dänisches Nein das gesamte EU-Gebäude erst zum Wackeln brachte und den DänInnen dann Sonderbestimmungen bescherte.

Diesmal sollte alles anders werden, hatte die Regierung sich vorgenommen. Sie konnte sich bei ihrer Ja-Kampagne auf alle wichtigen gesellschaftlichen Kanäle stützen: Gewerkschaften und Arbeitgeber, nahezu alle Parteien und eine bedrückende Mehrheit der Medien. Der Knackpunkt: das Amsterdam-Abkommen selbst. Denn das mag zu allem möglichen taugen, nur nicht als Gegenstand einer Kampagne.

Tatsächlich ist noch nicht einmal klar, worüber die DänInnen formal abstimmen, in welchen Punkten also laut Justizministerium konkret Souveränität abgegeben wird: Der Verbraucherschutz wird EU-Angelegenheit, die EU erhält das Recht, in Diskriminierungsfragen aktiv zu werden, und Brüssel bekommt die Möglichkeit, Sanktionen gegen undemokratische Mitgliedsländer zu verhängen. Das aber sind Fragen, die niemanden hinter dem Ofen hervorlocken.

Die Regierung hat nicht viel getan, den Schleier der Ungewißheit zu lüften. Die Ja-Kampagne wurde hauptsächlich mit dem Argument geführt, es gehe um ein „Europa des Friedens“. Wollte man es etwas genauer wissen, konnte man sich ein 1,7 Kilo schweres Informationspaket mit dem Amsterdam- Abkommen und damit zusammenhängenden Bestimmungen nach Hause schicken lassen. 23.000 Menschen taten das auch.

Mit einer Kampagne, die an allen Fragen eigentlich vorbeiging, schaffte es die Ja-Lobby zumindest bis kurz vor Schluß, in keine Fettnäpfchen zu treten. Brüssel wurde verdonnert, sich absolut nicht zur dänischen Volksabstimmung zu äußern. Nicht wie vor Maastricht sollten etwa Warnungen vor einem Nein seitens irgendwelcher EU- Mächtigen die aufmüpfigen DänInnen zu einem „jetzt erst recht“ provozieren. Als sich Kommissionsvorsitzender Jacques Santer vor einigen Monaten bei einer Pressekonferenz aus Versehen in diese Richtung verirrt hatte, warf sich dem Vernehmen nach die ganze dänische PolitikerInnenelite sofort ans Telefon, um ihn bis Ende Mai – erfolgreich – zum Schweigen zu bringen.

„Alles ist diesmal schiefgelaufen“, klagt Jean Thierry von „Jugend gegen die Union“, „alle Medien sind offen für Amsterdam, außer dem Boulevardblatt Ekstra Bladet. Jetzt glauben viele, die Nein-Seite würde nur aus alten nationalistischen Trotteln bestehen.“ Auch Anti-EU-Kämpferin Drude Dahlerup von der „Juni-Bewegung“ ist frustriert: „Sie haben es tatsächlich glänzend geschafft, uns totzuschweigen.“

Dabei kann man aus ganz unterschiedlichen Gründen gegen Amsterdam und das Schengen-Abkommen sein: Das dänische „Rechtsaußen-Nein“ fürchtet eine Ost-Ausweitung und einen neuen Flüchtlingsstrom. Die linken Nein- Parteien bekämpften Schengen, weil es die EU-Grenzen gerade nach außen dichtmacht. Und die Ja-Seite sah sich gegen Ende der Volksabstimmungskampagne in eine Schengen-Debatte verwickelt, die man gerne ganz vermieden hätte.

Passend zum Volksabstimmungstermin tauchte nämlich das geheime und in Dänemark – wie überhaupt in der EU – bislang noch nicht öffentlich bekannte Schengen-Handbuch zur Polizeizusammenarbeit „SIRENE“ („Supplementray Information Request for National Entry“) in der Mediendebatte auf. Grund dafür war eine Strafandrohung gegen einen Rechtsanwalt, der Teile aus dem von der EU als „geheim“ gestempelten Handbuch veröffentlicht hatte. (www.datashopper.dk/ ~boo/sirene.html) Vor allem zwei Teile des Handbuchs erregten Aufsehen: Die Tatsache, daß nicht nur die Polizei-, sondern auch die Geheimdienstzusammenarbeit ein Teil von Schengen werden soll – der dänische Justizminister Frank Jensen hatte dies noch vor einem Monat im Parlament vehement bestritten. Und eine Generalklausel im letzten Abschnitt des Handbuchs, wo zwar erst der Vorrang der nationalen Gesetzgebung betont wird, dann aber im direkten Gegensatz hierzu eine Generalermächtigung folgt, die JuristInnen als Möglichkeit zum Gesetzesbruch auslegen: „Soweit eine wirksame Kontrolle aufgrund der Grenzen nationaler Gesetzgebung nicht möglich ist, können entsprechende Informationen ganz oder teilweise auf geeignete Weise gesammelt werden.“

Die Regierung versuchte im Endspurt zu retten, was zu retten ist. Das SIRENE-Handbuch sei nur ein Leitfaden, zudem handele es sich um „Kann-Bestimmungen“. Justizminister Jensen mußte allerdings gestern eingestehen, daß auch die Zusammenarbeit von Geheimdiensten unter Schengen falle, zumindest „vermittelt durch die Polizei“.