Ein Richter greift durch

■ Das Amtsgericht München hat die Urteilsgründe gegen den ehemaligen Geschäftsführer der deutschen CompuServe-Tochter veröffentlicht

Amtsrichter Hubbert ließ sich Zeit. Am 28. Mai hatte er in München Felix Somm, den ehemaligen Geschäftsführer der deutschen Tochtergesellschaft des Online- Dienstes CompuServe, zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, die Strafe zwar zur Bewährung ausgesetzt, mit seinem Urteil gleichwohl die ganze, sonst von Berufs wegen optimistische Branche des Internet-Busineß in Alarmstimmung versetzt. Er schwieg bis zum 17. Juli. Dann erst unterzeichnete er die schriftliche Begründung seines Urteils. Am 22. Juli erreichte das Typoskript von über 80 Seiten die Kanzlei der Verteidigung, so schlecht kopiert allerdings, daß es nicht sogleich im Internet veröffentlicht werden konnte. Erst seit Montag ist eine Abschrift auch online abrufbar.

Am Dienstag veröffentlichte einer der Verteidiger von Somm, der Rechtsanwalt Hans-Werner Moritz, seine Stellungnahme. Die öffentliche Debatte ist eröffnet. Längst geht es nicht mehr um den Geschäftsmann Bruno Felix Somm, der „strafrechtlich bisher nicht in Erscheinung trat“ und heute als Chef seiner eigenen Firma „in finanziell und beruflich geordneten Verhältnissen“ lebt, wie auch das Amtsgericht feststellt. Gewiß kein Krimineller, das weiß Amtsrichter Hubbert. Auch ihm geht es ums Prinzip, der Prozeß ist ein Musterprozeß.

Auf dem Prüfstand steht das abkürzend „Multimediagesetz“ genannte „Informations- und Kommunikationsdienstegesetz“ (IuKDG), das seit dem ersten Ausgust letzten Jahres gilt. Wenn Hubbert recht behält, sollten Internet- Firmen Deutschland meiden. Der Amtsrichter geht ausführlich auf das Gesetz ein, das erst fast zwei Jahre nach den ersten Vorwürfen gegen den CompuServe-Geschäftsführer in Kraft getreten ist. Er meint nicht, daß es zu dessen Gunsten ausgelegt werden darf.

Allein das schon, wirft ihm der Verteidiger Moritz nun schriftlich vor, sei ein „methodischer Fehler“, der die Gefahr in sich berge, „Begriffe und Wertungen des allgemeinen Strafrechts auf den Teledienstebereich anzuwenden“, ohne auch nur zu fragen, ob die neue Rechtslage eine solche Anwendung zuläßt. Das Urteil, so Moritz, sei allein mit dem „Ziel geschrieben, bei einer breiten Öffentlichkeit Zustimmung für eine scharfe strafrechtliche Verfolgung von Verteilern von Kinderpornographie zu finden“. In diesem Sinne lege der Amtsrichter das Multimediagesetz aus, dessen „Sinn und Zweck“ jedoch gerade eine „Reduzierung des Haftungsrisikos der Diensteanbieter“ sei.

Hubbert allerdings kann sich dabei auf die Vorgeschichte des IuKDG stützen. Gerade die Bundesländer unter SPD-Führung hatten darauf bestanden, daß Internet-Provider keineswegs von der Haftung für die von ihnen vermittelten Inhalte freigestellt werden dürften. Der nun geltende Wortlaut ist der Ausdruck eines Kompromisses, wonach Länder- wie Strafgesetze für Internetprovider gelten sollen, soweit das technisch überhaupt möglich ist. „Der Angeklagte“, schreibt Hubbert deshalb ungerührt, „ist schuldig der Verbreitung pornographischer Schriften“, er habe „pornographische Schriften, die Gewalttätigkeiten, den sexuellen Mißbrauch von Kindern und sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand haben, öffentlich zugänglich gemacht“.

Ohne Zweifel ein Verstoß gegen Paragraphen, die nie für das Internet formuliert worden sind. Die strafbaren Dokumente hat das Gericht gleich stapelweise „in Augenschein genommen“; auch die Verteidigung mochte nicht bestreiten, daß sie dem Gesetz widersprechen. Erst danach wendet sich der Richter der Frage zu, ob Felix Somm dieses Material öffentlich verbreitet habe. Er hat, sagt Hubbert, denn der Straftatbestand ist inzwischen von den ursprünglich gemeinten gedruckten Dokumenten auf Computerdaten ausgedehnt worden, die nicht einmal auf einem materiellen Träger übermittelt werden müssen. Es genügt, wenn sie auf einem Bildschirm darstellbar sind.

Das ist der typische Fall des Konsums von Dokumenten aus Computernetzen. Paragraph5 IuKDG regelt die Haftung von Firmen, die einen technischen Zugang zu solchen Netzen vermitteln. Im vollen Einklang mit der bayerischen Staatsregierung, die schon zu Prozeßbeginn noch einmal ihre politische Forderung unterstrichen hatte, solche Firmen müßten in jedem Fall zur Rechenschaft gezogen werden, meint Richter Hubbert, „die Verantwortlichkeit des Angeklagten“ werde durch das neue Gesetz „nicht eingeschränkt“. Denn es verlange, daß eine solche Firma immer dann gegen verbotene Daten einschreiten müsse, wenn ihr das technisch möglich und zumutbar sei.

Nun hatte Felix Somm selbst auf Drängen der Münchener Staatsanwaltschaft im Dezember 1995 die anstößigen Newsgroups vom amerikanischen Server löschen lassen. Ausgerechnet damit beweist er nun in den Augen des Amtsgerichts, daß er die Klausel des IuKDG erfüllen konnte.

Kritiker hatten schon damals vor dieser Folge der Selbstzensur bei CompuServe gewarnt. Verteidiger Moritz hat Mühe, das technisch kaum zu widerlegende Argument zu entkräften. Er führt die internationale Struktur von CompuServe ins Feld, die dazu geführt habe, daß die deutsche Tochter lediglich den Zugang zu den Daten der Muttergesellschaft vermittele. Nur in diesem Falle nämlich wäre auch CompuServe Deutschland ein von der Haftung für den Inhalt befreiter reiner Verkäufer von Netzanschlüssen gewesen.

Falls allerdings die Berufungsinstanz diesem Argument folgte, wären die Folgen gerade für kleine und mittelständische Provider verheerend. Sie nämlich könnten die Verantwortung nicht mehr auf einen Konzern im Ausland schieben. Die durch den Sonderfall CompuServe indirekt als Rechtens anerkannte Münchener Interpretation des Informations- und Kommunikationsdienstegesetzes würde sie in vollem Umfang treffen. Niklaus Hablützel