„Der Tag begann am Panzerschrank“

Letzte Woche ließ die Justiz die Memoiren des Überläufers Hansjoachim Tiedge beschlagnahmen. Seine Lebensbeichte soll die öffentlichen Interessen der Bundesrepublik gefährden – die taz erhielt Einblick ins Manuskript  ■ Aus Berlin Wolfgang Gast

Die Prosa ist ehern hölzern, der Vorgang alltäglich: „Der Arbeitstag begann mit dem Öffnen des Panzerschrankes, der halbjährlich umgestellt werden mußte. Ihm entnahm ich die unterschiedlichen Aktenstapel, die ich am Vorabend hineingelegt hatte... Ein Stapel blieb im Schrank, wie ihn wohl jeder Büromensch vor sich herschiebt, der Stapel mit den Akten, die zu bearbeiten kein Vergnügen bereitete...“ Der Autor indes ist kein durchschnittlicher Bürokrat. Die Zeilen hat der ehemalige Leiter der Spionageabwehr im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz zu Papier gebracht – es sind die einleitenden Worte der Autobiographie, die Verfassungsschützer Hansjoachim Tiedge Jahre nach seiner Flucht in die DDR im August 1985 verfaßt hat.

Unter dem Titel „Der Überläufer – eine Lebensbeichte“ sollte die Biographie Mitte des Monats im Verlag Das neue Berlin erscheinen. Dazu wird es vorläufig nicht kommen, denn am Montag vergangener Woche beschlagnahmten Staatsanwälte und Polizei – gestützt auf einen Durchsuchungsbeschluß des Amtsgerichts Tiergarten – das 335 Seiten starke Manuskript. Druckfahnen, Kopien der Geschäftsakte und eine Textdiskette wurden sichergestellt. Richter Sendt, der für den Beschlagnahmebeschluß verantwortlich zeichnet, schrieb in seiner Begründung: „Im Hinblick auf die Vielzahl und den Umfang der zu beanstandenden Textpassagen kann nur die vollständige Beschlagnahme des Druckwerks der von ihm ausgehenden Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen entgegenwirken.“ So sehr sich die Berliner Justiz auch mühte, es gelang ihr nicht, die Lebensbeichte komplett aus dem Verkehr ziehen. Es kursieren noch einige Exemplare – und wer diese liest, der kann sich über die behauptete Gefährdung nur wundern.

Begründet wurde die Beschlagnahme mit dem Verdacht der „Verletzung von Dienstgeheimnissen und einer besonderen Geheimhaltungspflicht“. Dem Überläufer, der heute in der Nähe von Moskau wohnen soll, wird vorgeworfen, „Dienstgeheimnisse unbefugt zu offenbaren und hierdurch wichtige öffentliche Interessen zu gefährden“. Der Verlag steht in den Augen des Amtsgerichtes im Verdacht, „zumindest Beihilfe zu der vom Beschuldigten Tiedge begangenen Tat“ zu leisten.

Eine der beanstandeten Textpassagen beschäftigt sich mit dem Prager Frühling vor gut dreißig Jahren. Im Manuskript heißt es: „In der Außenstelle Merlostraße im Schatten der Agneskirche, in der Albrecht Rausch mit seiner Referatsgruppe IV B damals untergebracht war, ließ Hans Watschounek Tausende von illegal beschafften Telegrammen in die DDR und andere sozialistische Länder ablichten. Er hoffte, in diesen Telegrammen Hinweise auf Agenten zu finden, die angesichts der gespannten politischen Lage in Mitteleuropa bei ihren Führungsstellen unter Verwendung von Decknamen und fiktiven Texten, also verschlüsselt, um Weisungen nachsuchten. Eine Rechtsgrundlage für einen solchen Rundumschlag in die Grundrechte der Bundesbürger gab es nicht... Und hier sahnte, gedeckt von seinen Vorgesetzten, der Oberregierungsrat Hans Watschounek das gesamte Telegrammaufkommen ab.“ Auch wenn man das als Geheimnisverrat begreifen wollte – die Gefährdung, die aus diesen Zeilen hervorgehen soll, bleibt im dunklen.

Nachdem sich Tiedge aus tiefem Frust, hohen Schulden und einer kräftigen Alkoholabhängigkeit in die DDR abgesetzt hatte, mußten die Mitarbeiter im Verfassungsschutz davon ausgehen, daß er den neuen Herren in seinem neuen Leben sein ganzes Wissen offenbaren würde. Und in der Tat, nach Tiedges Flucht wurde die Kölner Behörde personell wie strukturell umgebaut.

Tiedge schreibt, er habe sich über all die Jahre mit seiner Arbeit identifiziert, bis zu einem psychischen Absturz nach dem Tod seiner Frau. Es war wohl weniger Absicht, daß er in etlichen Passagen des Buches seinen früheren Arbeitgeber der Lächerlichkeit preisgibt. Über den früheren Verfassungsschutzpräsidenten und späteren BND-Chef Heribert Hellenbroich hält er etwa anläßlich der Einführung einer neuen elektronischen Datenverarbeitung fest: „Was bei der Arbeit mit dem PC (...) eigentlich herauskommen sollte, wußte im Grunde niemand. Optimisten waren voller Hoffnung, Pessimisten winkten wie meistens ab. Geburtshelfer dieses Referates war im übrigen Hellenbroich selbst, der 1983 oder 1984 von einer Besuchsreise zu CIA und FBI Erstaunliches mitbrachte. ,In einem Saal‘, schwärmte er, ,saßen vierzig junge Frauen mit Schlitzaugen, unergründlich lächelnd, alles Amerikanerinnen chinesischer Herkunft, die hörten die chinesische Botschaft live ab. In einem anderen Raum ebensoviel fast vertraute Gesichter, hier wurde die DDR- Botschaft abgehört‘.“

Um es zusammenzufassen: Tiedges Biographie ist ein langatmiges, dröges Werk. Der Autor zeichnet seine verkrachte Karriere minutiös nach, er nennt die ihm noch bekannten Namen und Operationen, er trauert den guten alten Zeiten nach – die Reflexion des Geheimdienstgeschäftes aber fällt ziemlich flau aus. „Es wäre doch gelacht“ schreibt er, wenn die Spionage „ausgerechnet am Ende des kalten Krieges zwischen Ost und West sterben sollte. Und ich wäre kein richtiger Abwehrmann, wenn ich mich darüber nicht freuen würde. Denn solange Spionage betrieben wird, so lange gibt es auch sie – meine geliebte Spionageabwehr“. Das sind sicherlich merkwürdige Sätze – nur, daß sie die Sicherheit der Bundesrepublik beeinträchtigen sollen, das ist nicht nachzuvollziehen.