Magna Charta für das Chaos

■ Das US-Bundesgericht in Philadelphia definiert das Internet: Es darf nicht zensiert werden und soll ein billiges Medium bleiben, in dem jeder zu Wort kommen kann

Die schwarzen Seiten können wieder umgefärbt werden. Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr notiert der Internetkalender einen historischen Tag. Am 11. Juni hat das Bundesgericht für den District Ost-Pennsylvania in Philadelphia verkündet, es halte den sogenannten Communication Decency Act für unvereinbar mit der amerikanischen Verfassung und ihrem ersten Zusatz, der das Recht der Redefreiheit garantiert.

Bill Clinton hatte am schwarzen, netzhistorischen 8. Februar das Gesetz unterzeichnet, das hohe Strafen für das Verbreiten „unanständiger“ Dokumente androht. Das Justizministerium kann nun den Obersten Gerichtshof der USA anrufen, doch schon jetzt haben die Richterin Dolores K. Sloviter und ihre Beisitzer Ronald L. Buckwalter und Stewart Dalzell in Philadelphia Mediengeschichte geschrieben. Weit über den unmittelbaren Anlaß hinausgehend, haben sie versucht, das Internet selbst zu definieren. Akribisch zeichnen sie das ursprünglich militärische Interesse an einem möglichst unverletzbaren Informationssystem nach, erläutern seine dezentrale Struktur, den Umschlag in ein öffentliches Netz und die Arten, in denen es heute in aller Welt genutzt wird. All das ist gewiß auch in Büchern und Zeitschriften nachzulesen, erstmals jedoch ziehen Juristen Konsequenzen: Die über 4.000 Zeilen der Urteilsbegründung skizzieren eine Magna Charta des Cyberspace.

Schon tauchen die ersten Webpages auf, die unter dem Symbol des Blauen Bandes für die Redefreiheit die Schlußsentenz des Richters Dalzell zitieren. Sie lautet: „So wie die Kraft des Internet das Chaos ist, so hängt die Kraft unserer Freiheit ab vom Chaos und vom Mißklang der von allen Ketten befreiten Rede, die das First Amendment schützt.“

Ein Donnerschlag, nicht zuletzt in die deutschen Ministerialbüros. Die Bonner Regierung stolpert seit Monaten der Entwicklung des Internet hinterher, in Kompetenzwirrwar verfangen. Noch in diesem Sommer will das Kabinett ein Multimediagesetz beraten. Das Telekommunikationsgesetz, das den Zugang privater Firmen zum Kommunikationsmarkt regeln soll, ist soeben im Bundesrat gescheitert. Dasselbe droht für das Multimediagesetz. Der Bonner Minister hat bereits zugestimmt, daß Länder- und Bundesgremien zuständig sein sollen für den Datenverkehr – womit vollkommen unklar geworden ist, wie denn nun die Rechtslücke zu schließen wäre, die das Internet angeblich aufreißt.

Allzugroß kann sie nicht sein, die Ministerialbeamten sollten eine Lesepause einlegen, das Urteil von Philadelphia ist in voller Länge abrufbar unter http://www .eff.org. Es hält sich nicht lange damit auf, daß Produzenten von Pornographie gegen geltende Gesetze verstoßen, und nimmt wohlwollend die Versicherung des Justizministeriums zur Kenntnis, es werde Straftäter auch im Cyberspace verfolgen.

Denn natürlich ist das Internet kein rechtsfreier Raum. Wohl aber ist es ein Medium ohne historisches Vorbild. Darüber sind sich die Richterin und ihre Beisitzer völlig einig, so unterschiedlich sie im übrigen Einzelaspekte des Communication Decency Act bewerten. Kongreß und Regierung sahen nur den Inhalt, die Pornographie, nicht die Struktur des Internet. Sie reagierten mit unrealistischen Verbotsdrohungen und hätten damit kein einziges Kind geschützt, sondern das Internet zu einem „Spiegel von Rundfunk und Presse“ gemacht, mahnt Dalzell, zu Medien, in denen „wirtschaftliche Macht gleichbedeutend ist mit Einfluß“.

In beißender Schärfe ruft der Richter dagegen die Fakten in Erinnerung. Das Internet entstand, so lautet sein zentrales Argument, ohne daß sich irgend jemand für seine Inhalte interessiert hat. Nur deswegen konnte es sich entwickeln, denn: „Die Teilnahme erfordert nicht und hat nie erfordert, daß jemand einem Inhalt eines anderen Benutzers oder gar des ganzen Netzes zustimmt.“ Vier ganz andere, demokratischere Eigenschaften vielmehr hätten sich in den Verhandlungen herausgeschält: erstens „sehr niedrige Schwellen“, zweitens identische Bedingungen für Sender und Empfänger, drittens eine „erstaunliche Vielfalt“ von Informationen und viertens ein „bedeutsamer Zugang“ für alle, „die etwas sagen wollen“, und zwar so, daß sich „sogar eine gewisse Ausgewogenheit zwischen den Sprechern“ einstelle.

John Perry Barlow, der Texter von Grateful Dead, hatte am Tag der Unterzeichung des Decency Act eine hymnische Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace ins Netz gesetzt. Nur vier Monate später klingt es nüchterner aus dem Gerichtssaal von Philadelphia, aber nicht weniger radikal. „Immer noch nageln die Luthers unserer Zeit ihre Thesen an die Wand, aber eher an das elektronische Nachrichtenbrett als an die Tür der Schloßkirche von Wittenberg.“ Keine Regierung solle sie daran hindern, warnt Dalzell, am wenigten wohl die deutsche, auch wenn sich der Reformator heute gelegentlich in unchristlicher Gesellschaft wiederfindet. Aber vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus seien die Thesen „ehrgeiziger Künstler, französischer Köche, von Hundeliebhabern und Fliegenfischern“ nicht weniger wichtig. Niklaus Hablützel

(niklaus@taz.de)