Bann des Glaubens

Papst Johannes Paul II. hat bisher in seinen 23 Dienstjahren rund tausend Frauen und Männer selig und 450 heilig gesprochen. Das macht insgesamt doppelt so viele Selige und Heilige, wie alle seine Vorgänger in den vergangenen vier Jahrhunderten ernannt haben. Die siebzehnjährige Audrey Santo hat es bisher nicht zur Heiligen gebracht. Nicht einmal ein Heiligsprechungsverfahren für sie läuft im Vatikan. Es interessiert nicht, dass seit vierzehn Jahren Zehntausende Gläubige das Mädchen aus Worcester, Massachusetts für eine lebende Heilige halten. Denn lebende Heilige gibt es in der katholischen Kirche nicht. Da müsste schon ein Wunder geschehen.

An Wundern freilich mangelt es nicht, fragt man die Pilger, die Audrey tagtäglich aufsuchen und um Heilung der eigenen oder der Gebrechen einer geliebten Person beten. In Audreys Kapelle weinen Statuen, bluten Hostien, und Öl zieht Fettstreifen auf Bildern. Und auch Behinderte an Krücken sollen schon freihändig wieder herausgekommen sein. Unbezwingbare Krebse geheilt. Nur sich selbst hat Audrey bis heute nicht wieder auf die Beine gebracht.

Längst ist Audrey im Kanon des Pilgertourismus zwischen der wundertätigen Quelle von Lourdes in Frankreich über die Madonnenerscheinung von Medjugorije im ehemaligen Jugoslawien bis zur Madonna von Guadeloupe in Mexiko aufgenommen. Einmal im Jahr, an ihrem Unfalltag im August, findet eine große Heilungsmesse statt. 1998 füllten achttausend Audreyanhänger das Stadion der Heilig-Kreuz-Universität von Worcester. Wie Schneewittchen im Glassarg wurde Audrey in einem Glaszimmer mit Klimaanlage und rotem Dach mitten im Stadium aufgebahrt. Das Papamobil des Papstes ist popelig dagegen.

Nur der Bischof vor Ort will noch nicht wahrhaben, was dort geschieht. Seit 1998 lässt er prüfen, was dran ist an den unglaublichen Geschichten. Gegenüber seinem Oberhirten in Rom schweigt er beharrlich. Vielleicht würde jener ja in seinem Übereifer doch zum Schluss kommen, Audrey heilig sprechen zu wollen und ihn, den Ungläubigen, auszuschließen. Heißt es doch im Ersten Vatikanischen Konzil von 1869/70: „Wenn einer sagt, dass keine Wunder geschehen können, der sei im Banne.“ PETRA WELZEL