die jazzkolumne
: Die „In a Silent Way“-Session von Miles Davis

Revolutionäre Zelle

Die musikalische Revolution stand auf dem Plan, der Jazz war am Ende. Als „In a Silent Way“ 1969 erschien, waren Vietnamkrieg, Nixon und Studentenproteste, Civil Rights, Rassenintegration und Armut längst nicht mehr nur amerikanische Themen – die Welt schaute auf die USA, und die Jazzwelt verfolgte, was Miles Davis tat. Diese Gemengelage skizziert Bob Belden in dem besten Buch, das in diesem Jahr über Jazz erschienen ist. Auf knapp hundert CD-Book-Seiten hat der Autor akribisch recherchiert, wie aus einer Jazzband eine revolutionäre Zelle wurde. Auf den zum Buch gehörenden drei CDs ist dokumentiert, wie die Technologie den Jazz veränderte: Miles Davis, „The Complete In a Silent Way Sessions“ (Columbia). Die Musik, die Miles Davis Ende der Sechzigerjahre aufnahm, korrespondierte nicht nur mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, sie war Teil der Veränderung. Sie war Krach, Ruhe, Widerspruch, Hipness und Aneignung, Jam und Improvisation – das minimalistische Pendant zu Sly Stones „Dance to the Music“.

Was kurz zuvor geschah: Miles Davis spielte in halbleeren Clubs, und Jimi Hendrix, Sly Stone und James Brown waren die schwarzen Künstler, die das Publikum zogen, das er gern gehabt hätte. Der Saxofonist Charles Lloyd war damals weit über das Jazzpublikum hinaus sehr angesagt, in seiner Band spielten Mitte der Sechzigerjahre der Pianist Keith Jarrett und der Schlagzeuger Jack DeJohnette, die beide später in der Miles Davis Group auftauchen. Lloyds Vorwurf, Miles Davis habe sich seine Band angeschaut, um die Musiker abzuwerben, lag nahe. Davis wollte Platten verkaufen und wie Cannonball Adderley das afroamerikanische Publikum erreichen. Vor der Erfindung des Pop lag Miles Davis noch gut im Rennen, wenn sich eine seiner Platten 60.000 Mal verkaufte. Doch als 400.000 Menschen nach Woodstock kamen, veränderte die Plattenindustrie ihre Strategien und Absatzerwartungen.

Bill Graham war Besitzer des Filmore in San Francisco und des Filmore East mitten in New York, wo Miles 1970 vor einem Riesenpublikum auftrat. Als Vorgruppe der Grateful Dead spielte Miles vor 5.000 Leuten – vor jungen, weißen Hippies, die wahrscheinlich vorher noch nie was von ihm gehört hatten. High, konzentriert und neu war das alles.

Für die „In a Silent Way“-Sessions zwischen September 1968 und Februar 1969 wollte Davis E-Bass und E-Piano. Neben Chick Corea und Herbie Hancock holte er als dritten Keyboarder Joe Zawinul, der zwischen 1961 und 1970 der Pianist und Hitschreiber in Cannonball Adderleys Band war.

Der Pianist Victor Feldman hatte Joe Zawinul schon Jahre zuvor von einem Typen namens Harold Rhodes erzählt. Der hatte das E-Piano erfunden, das Zawinul spielen wollte. Mit der Cannonball Adderley Band ging Rhodes zeitweilig auch auf Tour, um sein Piano im Einsatz zu testen und weiterzuentwickeln. Heute ist das Fender Rhodes das bekannteste E-Piano der Musikgeschichte, in der aktuellen Ambient-, Lounge- und Soul-Musik ist es omnipräsent. Mit „Mercy, Mercy, Mercy“ schrieb Joe Zawinul 1966 für die Adderley Band einen Top-Ten-Hit und eine Soulhymne für das E-Piano. Zur „In a Silent Way“-Session brachte Zawinul den Titelsong mit. Miles gefiel die Melodie, doch er wollte simple Strukturen und hippe Sounds – nichts Komplexes, vor allem keine überflüssigen Akkorde –, und so veränderte er Zawinuls Stück grundlegend, übrigens nicht unbedingt zur Freude des Komponisten, der darüber verärgert war, dass Miles sich auch als Komponist und Arrangeur des Titels ausgab.

Wayne Shorter und Joe Zawinul, die später mit Weather Report sehr erfolgreich wurden, waren in jenen Jahren die Ideengeber, und Miles war der Leader. Für ihn war es das Wichtigste, den Anschluss an Markt und Publikum wieder zu finden. Schon in den Jahren zuvor hatte er seine führende Rolle im Jazz eingebüßt. Als John Coltrane dann im Sommer 1967 starb, machte Davis sich ernsthaft Sorgen um die Zukunft der Musik. In den folgenden zwei Jahren änderte Miles sein Leben. Seine neue Frau Betty Mabry machte ihn mit Sly Stone und Jimi Hendrix bekannt, sie besorgte ihm hippe Klamotten und er beschaffte neue Instrumente für die Band.

Miles ging es jetzt darum, sowohl vom elektronischen Equipment her wie auch aufnahmetechnisch auf der Höhe der Zeit zu sein. Die bewährten Produktionstechniken machten für ihn keinen Sinn mehr. „In a Silent Way“ steht im Mittelpunkt dieser wilden Zeit voll kreativer Experimente, das Folgealbum „Bitches Brew“ wurde kurz darauf zum definitiven Statement des Postjazz-Miles.

In dem jetzt veröffentlichten 3-CD-Set der „Complete In a Silent Way Sessions“ wird zum ersten Mal in dieser Form hörbar, was auch in dem CD-Book mit geradezu detektivischem Spürsinn offen gelegt wird, nämlich dass die 1969 auf LP veröffentlichten Fassungen von „Shhh/Peaceful“ und „In a Silent Way/It’s About That Time“ gesampelte Bearbeitungen der Session Tapes waren. Der Produzent Teo Macero hatte den Originalmitschnitt an bestimmten Stellen gestückelt und neu zusammengesetzt. Vor allem aus Kopien ausgewählter musikalischer Phrasen produzierte er die endgültige LP-Fassung. Als musikalischen Event und Gruppenprozess hat es das, was damals veröffentlicht wurde, nie gegeben. Dass die Platte dennoch voll von dem in der Jazzwelt so wichtigen Spirit der spontanen Improvisation ist, gehört zu einem der verblüffendsten Ereignisse der neueren Musikgeschichte. In seinem CD-Book zitiert Bob Belden dann auch einen Musiker, der darauf hinweist, dass neben der Tatsache, dass fast fünfzehn Minuten der LP-Fassung aus exakten Wiederholungen bestehen, der Umstand völlig abgefahren sei, dass genau das jahrzehntelang weder bemerkt noch kommentiert worden ist. Das von Miles Davis favorisierte Prinzip des First Take, das Hier und Jetzt des ersten Mitschnitts, bei der es um die Authentizität des Unmittelbaren ging, wurde bei „In a Silent Way“ durch Aneignung der musiktechnologischen Neuerungen revolutioniert: Sample later.

Zweiunddreißig Jahre danach: Für seine neue CD „Future2Future“ hat Herbie Hancock alles mit Overdub einspielen lassen. Wayne Shorter wollte die Musik des Albums vor der Aufnahme seiner Saxofonsoli nicht hören, weil er in seiner Improvisation unmittelbar und frei bleiben wollte. Die Band ist imaginär und Material geworden.

CHRISTIAN BROECKING