Das Erbe der Romantik

Soll man sich nun selbst finden oder erfinden? Und überhaupt: Ist Selbstverwirklichung ein Zwang? Diesen Fragen geht Undine Eberleins Studie über „Einzigartigkeit“ nach

Die Romantik ist eine Epoche, die uns in vielerlei Hinsicht noch immer bestimmt, etwa in unseren musikalischen Hörgewohnheiten oder unseren Vorstellungen von Liebe. Nach Undine Eberleins Darstellung in ihrem jüngst erschienenen Buch „Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne“ prägt uns das romantische Denken aber vielleicht noch viel entscheidender in unserem ethischen Selbstverständnis und unserer Lebensführung.

Eberleins präzise gearbeitete und gut lesbare Studie sieht den modernen Menschen, der sich an dieser romantischen Erbschaft bis heute orientiert, in Sachen „Selbstverwirklichung und Einzigartigkeit“ einer Alternative ausgesetzt: sich selbst entweder zu „finden“ oder sich selbst zu „erfinden“. Es handelt sich um eine Dualität, die bereits von Philosophen wie Richard Rorty oder Michel Foucault als eine Art Leitdifferenz für unser Selbst- und Weltverständnis aufgedeckt wurde, wobei in ihren Augen die erste, moderne Variante zugunsten der zweiten, postmodernen verabschiedet werden sollte.

In Eberleins unparteiischer Sicht stellen beide Modelle gleichermaßen mögliche Formen der Verwirklichung des romantischen Individualitätsideals dar. Wobei sie zeigt, dass dieser Idee keineswegs ein Anspruch zugrunde liegt, den die Subjekte quasi aus sich selbst heraus entwickelt hätten, sondern um einen kulturellen Imperativ, der in etwa besagt: „Sei originell! Schaffe deine Individualität selbst!“. Eine Aufforderung zur Erschaffung „romantischer Individualität“, die eine breite geistige Strömung in unseren neuzeitlichen Gesellschaften darstellt und als eine Art Ersatzreligion angesehen werden kann. Eberlein belegt deren Wirkmächtigkeit in einem ausgiebigen Durchgang durch die Geschichte der romantischen Idee der Einzigartigkeit. Vom offiziell noch vorromantischen Rousseau ausgehend, kommt sie über die Boheme und die Jugendbewegung bis zum gegenwärtigen Feminismus. Um der Fülle des Materials dabei keine Gewalt anzutun, differenziert sie die Analyse in allerlei Unterkategorien, die die Komplexität und Vielfalt des romantischen Individualismus deutlich machen: Wer sich selbst zu „finden“ bestrebt ist, kann dies sowohl auf „mystische“ Weise, im Glauben an einen eigenen Wesenskern tun als auch mittels der „entelechischen“ Vorstellung einer inneren zielgerichteten Entwicklung des eigenen Ich. Und wer glaubt, sich selbst „erfinden“ zu können, hat die Vorstellung der „Bastelbiografie“ ebenso zur Verfügung wie die einer eigenen „demiurgischen“ Schöpferkraft.

Was unsere Gegenwart betrifft, diagnostiziert Eberlein einerseits eine Akzentverschiebung vom Selbstfindungs- zum Selbsterfindungsmodell – eine Tendenz, die den Einzelnen einen größeren Freiheitsspielraum zu geben scheint, weil sie damit zu den Autoren ihres Selbstbildes werden. Andererseits deckt die Studie noch einen anderen Wandel der letzten drei Jahrzehnte auf: von gesellschafts- und systemkritischen Orientierungen hin zur Systemkonformität der Individualitätsidee. Dies scheint die Autorin trotz ihrer erklärten Zurückhaltung in wertender Hinsicht offensichtlich zu beklagen.

Eine ähnlich latente Bewertungshaltung kommt in ihremBuch auch hinsichtlich des Selbstverwirklichungsdiskurses insgesamt zum Tragen. Denn bei aller Neutralität der Darstellung legt der Text der Leserschaft doch nahe, dass man die Selbstfindungsprozesse im Rahmen etwa des Psychobooms oder der Therapiekultur unserer Tage als Formen der Selbststilisierung anzusehen habe und weniger – im Sinne ihrer Protagonisten – als „authentische“ Formen der Selbstverwirklichung.

THOMAS SCHÄFER

Undine Eberlein: „Einzigartigkeit“. Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2001, 400 Seiten, 78 DM