Analog ist besser

Outlaw-Existenzen zwischen Vernetzung und Verschwörung: Jim Dodges Bildungsroman „Die Kunst des Verschwindens“ und seine historischen Vorbilder

von HELMUT HÖGE

„In der ,Kunst des Verschwindens‘“, schreibt Thomas Pynchon im Vorwort von Jim Dodges Roman, „wird man nicht nur eine Gabe für Prophetisches bemerken, sondern auch eine ständige Verherrlichung jener Lebensbereiche, wo noch bar bezahlt wird – und die sich daher zumeist dem digitalen Zugriff widersetzen.“ Pynchon bezeichnet das Buch deswegen auch als erstes Beispiel „für einen bewusst analogen Roman“. Das Gegenteil davon dürften die Essays von Paul Virilio sein, die im Merve Verlag unter dem Titel „Die Ästhetik des Verschwindens“ erschienen sind. Bei Virilio handelt niemand mehr analog.

Dodges Roman beschreibt eine Gruppe kalifornischer Outlaws und Anarchisten, deren Basis die sittliche Vernunft ist. Die amerikanische Literatur über solche Verschwörungen reicht von den ersten Siedler-Fantasien und den Partisanen-Erinnerungen aus dem Unabhängigkeitskrieg über „Huckleberry Finn“, die „Digger“- und „Beatnik“-Geschichten bis zu all den Unterhaltungsromanen, die eigensinnige Verbrecher, herausragende Spieler, glückliche Huren, gewiefte Schmuggler oder gewagte Künstler verherrlichen.

In „Die Kunst des Verschwindens“ befasst sich eine mit dem Kürzel AMO bezeichnete Verschwörung mit all diesen widersetzlichen Existenzweisen gleichzeitig – in Form eines Curriculum Vitae. Dodge schildert Initiation, Lehre und Ausbildung eines Adepten, wobei ausgehend von den New-Age-Therapien in Esalen (Big Sur) und ihren radikalen Ablegern noch ein ganzes Sammelsurium von alchemistisch-pharmazeutisch und indianisch-mystisch angereicherten Zen-Buddhismen ins Spiel kommen. Zudem war die Mutter dieses Adepten bereits eine ausgewiesene Outlaw, so dass seine partisanische Waisen-Erziehung genau genommen schon in der Gebärmutter begann.

Wir haben es hier mit einer erneuten Verkitschung des amerikanischen Mythos zu tun, aber auch mit realen Weiterentwicklungen – etwa aus der Zeit zwischen Ken Keseys „Merry Prankster“-Bus und seiner Bauernwerdung im Oregon, der Thomas Pynchon mit seinem Roman „Vineland“ ein Denkmal setzte. Dodge scheint nun so etwas wie sein Schüler geworden zu sein: „,Die Kunst des Verschwindens‘ zu lesen ist, als würde man eine endlose Party feiern, zu Ehren aller Dinge, auf die es wirklich ankommt“, lobt Pynchon. Dabei geht es stets um ein spiralistisches Ausbalancieren zwischen dem umherschweifenden Rebellen, der angreift und flüchtet oder umgekehrt, und dem sich wertkonservativ verteidigenden Partisanen – wobei Verschwörung auf Verschwörung prallt.

Verschwörung der Guten

So wie es eine bemerkenswerte Parallele zur Beatnik-Literatur seinerzeit in der Sowjetunion gab (Axjonow, Jewtuschenko und andere), gibt es nun auch solche New-Age-Verschwörungs-Romane wie die von Dodge in Russland. Zu den Autoren gehört etwa der ehemalige Miliz-Untersuchungsführer Sergej Alexejew mit seinem Bestseller „Der Schatz von Walkirij“. Die Kritik sprach von einem „philosophisch-ethnographischen Action-Roman“. Alexejew beschreibt eine unsterbliche neue Komintern, die sich, versteckt in Bergwerkskatakomben im Ural, partisanisch schult, um bei der Gestaltung der neuen Zukunft Russlands effektiv mitzumischen. Zu seinen Lesungen erscheinen immer wieder Fans, die sich persönlich für die Walkirij-Auserwählten (Adepten) halten oder sogar bereits im Untergrund leben.

Der Gegner, das sind hier wie dort Regierung und Kapital. Dodge wendet sich speziell gegen das Edward-Teller-Laboratorium in Livermore, wo man am atomaren Schutzschild der USA baut, und daneben natürlich auch gegen FBI und CIA, deren Überwachungstechnik derart komplex ist, dass dagegen letztlich nur das völlige Verschwinden hilft. Wobei sich noch einmal das Problem des Verrats stellt. So wie der KGB eine saubere partisanische Vergangenheit hat, waren auch die CIA-Anfänge in der Vorgängerorganisation OSS im Zweiten Weltkrieg durchaus ruhmreich.

Das OSS rekrutierte seine Mitarbeiter aus den Kreisen der linken Sozialwissenschaftler des New Deal aus Harvard, Yale und Berkeley – unter anderen war Herbert Marcuse dabei. Ihre profunden Analysen bewirkten bald, dass die USA statt die nationalistischen und royalistischen Befreiungsgruppen in Europa mehr und mehr die kommunistischen Partisanen unterstützte, die sich dann auch fast überall durchsetzten. In den OSS-Stützpunkten herrschte damals durchaus der Geist einer Verschwörung der Guten, denn viele (antisemitische bis antikommunistische) US-Militärs wollten eher mit deutschen Truppenteilen verhandeln, wie auch umgekehrt. Der Kalte Krieg verwirklichte dann ihr Konzept. Die AMO-Verschwörung bei Dodge ist jetzt noch einmal eine Art Alternativ-Harvard, bei dem Marx vorausgesetzt und die Ökonomie über szenetypische Soli-Abos gewährleistet wird. Einen solchen anarchistisch-feministischen Schamanismus, der sich mit Illegalem verbindet, gibt es in Kalifornien tatsächlich. Viele Kommunen, Buchläden und Hang-Outs in dem Roman haben reale Vorbilder – mit „Ghost Dog“ versuchte sich zuletzt Jim Jarmusch auch auf diesem Terrain. Die Umdrehung, dass ausgerechnet ein Verrückter andere heilen kann, kennt man bereits aus Ken Keseys romantisch-antipsychiatrischen Roman/Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ – bei Dodge gibt es das „therapeutische Tagebuch“ eines schizophrenen Teenagers.

Der Neoverismus

Insgesamt ist Dodges Buch eine Blütenlese aus all dem, was das andere Amerika bisher über den Großen Teich geschickt hat – ideelle Carepakete, verpackt als hedonistische Bildungsromane: Was hier bloß ein Oxymoron wäre, ist dort jedoch merkwürdigerweise ein Erfolgsrezept.

In Europa hat man statt auf eine „romantische“ reeducation (with lots of fun) auch eher auf Neoverismus beziehungsweise auf einen dunkel gekleideten Existenzialismus gesetzt. Wie bei Dodge geht es zum Beispiel auch in dem 1948 erschienenen neoveristischen Roman „Der Himmel ist rot“ von Giuseppe Berto um Adepten, die erzogen werden müssen: Hier ist es eine Gruppe von 13- bis 16-Jährigen, die durch deutsche Bombardierung zu Waisenkindern geworden sind. Sie müssen sich quasi selbst zu den neuen (kommunistischen) Menschen erziehen. Die Amerikaner sind dabei nur Geldgeber – und zwar im Tausch gegen Geschlechtsverkehr, die Prostitution wird zur Hauptökonomie. Eine Tendenz, die Curzio Malaparte wenig später zur konservativ-partisanischen Bemerkung veranlasste: „Der Krieg war besser als dieser Friede!“ Die Prostituierten standen stets auf Seiten der Linken, bei Dodge spielen sie deshalb jetzt eine wichtige Rolle. Zudem zählt dieses Gewerbe ebenso wie Haschischanbauer und sonstige Drogenschmuggler in den USA quasi automatisch zu den nicht sesshaften Outlaws. In Europa dagegen gibt es für Outlaws sogar quasioffizielle pädagogische Modelle. Aus Dänemark kommt das immer noch wirksame Schulmodell Tvind, deren interessanter Ableger für Heimkinder in der BRD Werkschule hieß, was jetzt nur mehr eine pädagogische Stiftung ist.

Erwähnt sei ferner die jesuitische Kinderrepublik Bemposta in Spanien, wo jeder Adept vor seiner Artistenausbildung erst einmal ein Jahr ein Handwerk lernen muss, danach geht er betteln, anschließend eine Weile stehlen und schließlich muss er auch noch in den Knast. Daneben gab es in den Pyrenäen auch noch ein Pionierlager für geistig behinderte Kinder, auf Deutsch wird darüber in dem Band „Ein Floß in den Bergen“ (Merve Verlag) berichtet.

Solche Kaderschmieden könnten den Kaliforniern gefallen – auch wenn sie ebenfalls eher neoveristisch als romantisch sind. Das eine wie das andere lässt sich im Übrigen verkitschen. Was in Italien das Kultbuch „Schweine mit Flügeln“ wurde, hieß in den USA: „Even Cowgirls get the Blues“. Eins haben jedoch all diese zwischen Vernetzung und Verschwörung verwickelten Existenzen und Literaturen noch nicht geschafft: das Verschwinden. Daran scheitert auch Dodge, der erst Bauer war und dann Autor wurde, während Ken Kesey genau umgekehrt vorging – und Thomas Pynchon von Anfang an verschwunden war. Insofern leistet „Die Kunst des Handelns“ vom französischen Jesuiten Certeau – in dem er die spurlosen alltagspartisanischen Tugenden des „Man on the Street“ gegenüber den Zumutungen der informatisierten und digitalisierten Megalopolen-Ökonomie herausarbeitet –, was „Die Kunst des Verschwindens“ von Jim Dodge bloß am Rande der Handlung behauptet.

Oskar Huth

Außerdem hat der Merve Verlag gerade den nichtfiktiven „Überlebenslauf“ des Berliner Klavierstimmers Oskar Huth veröffentlicht, der während der Nazizeit als Dokumentenfälscher „verschwand“ – in eine Art Ein-Mann-Verschwörung. Die Amerikaner wollten ihn nach dem Krieg zum Kultursenator machen, er zog jedoch eine nahezu anonyme Nachkriegsexistenz als „freischaffender Kunsttrinker“ vor. Und wurde so für viele zu einem Vorbild.

Jim Dodge: „Die Kunst des Verschwindens“. Rowohlt, Reinbek 2000, 575 Seiten, 28 DM