Zur Erinnerung: Das erste Jahr der Jasmin-Revolution in Tunesien

Kundgebung in der Avenue Bourguiba im Zentrum von Tunis kurz nach dem Sturz von Ben Ali im Januar 2011 Bild: Renate Fisseler-Skandrani

Die Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid löste spontane Massenproteste aus, die am 14. Januar 2011 zur Flucht des Diktators Ben Ali führten. Sofort wandten sich die unter der Diktatur geknebelten, aber legalen Oppositionsparteien von Nejib Chebbi, Mustapha Ben Jaffar und Ahmed Brahim an die Öffentlichkeit. Moncef Marzouki, vormaliger Präsident der tunesischen Liga für Menschenrechte, Gegenkandidat von Ben Ali bei früheren Präsidentschaftswahlen, kam nach Tunesien zurück. Seine Partei „Kongress für die Republik“ wurde zugelassen.

Ein Paukenschlag war, als Rached Ghannouchi, Gründer der unter Ben Ali verbotenen gemäßigt islamischen Partei Ennahda nach 20 Jahren Exil zurückkehrte. Ihre Sympathisanten saßen während der Diktatur zu Tausenden in tunesischen Gefängnissen und wurden gefoltert. Auch die kommunistische Arbeiterpartei "PCOT" von Hammam Hamami, der jahrelang im Untergrund lebte, erhielt ihre Zulassung. Die Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine kehrte zurück, ihr Radio Kalima ist jetzt in Tunesien auf Sendung.

Die Zentren der Städte, große Avenuen und Plätze, sind seit Beginn des Umbruchs vielfach genutzter, öffentlicher politischer Raum, wo in Kleingruppen diskutiert und sozialen wie politischen Forderungen durch Demonstrationen und Sit-ins Nachdruck verliehen wird.

Politisch aktive Vereinigungen und Parteien haben im März 2011 die Ernennung eines "Hohen Rates zur Umsetzung der Ziele der Revolution und zur Vorbereitung der Wahlen" durchgesetzt, eine Art revolutionäres Parlament, bestehend aus 12 Parteien, VertreterInnen von Vereinigungen und unabhängigen Personen der Zivilgesellschaft. Dieser Hohe Rat hat das Wahlgesetz erarbeitet und die ersten freien Wahlen in Tunesien vorbereitet. Er hat das Prinzip der Parität und Alternanz zwischen Männern und Frauen bei der Erstellung der Wahllisten der Parteien für die Verfassungsgebende Versammlung festgelegt.

Es gilt, gewaltige Aufgaben zu lösen: einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit zu bewerkstelligen, Aufklärung, Aufarbeitung und Beseitigung der Hinterlassenschaft der korrupten und mafiösen Einparteiendiktatur in der Exekutive, im Sicherheitsapparat und in der Justiz und zugleich eine Verfassung zu erarbeiten sowie Reformen einzuleiten, die die Fundamente legen für eine soziale, demokratische und egalitäre Republik.

Frauen forderten seit Beginn der Revolution - hier im März 2011 - die volle Gleichberechtigung Bild: Archiv

Eine Generationen-Aufgabe, zumal bei hoher Arbeitslosigkeit (etwa eine Million Arbeitslose), rückläufiger Wirtschaftentwicklung im Revolutionsjahr, (Einbruch des Tourismus um fast 50%) und wachsender Ungeduld all jener, die zu Recht auf spürbare soziale Verbesserungen warten. So steht dann auch die soziale Frage an erster Stelle und ist auch die schwierigste: Schaffung von Arbeitsplätzen, eine zielgerichtete Wirtschaftspolitik, innovative Konzepte und Projekte und eine spezielle Förderung der vernachlässigten Regionen, um Hunderttausenden junger Menschen eine reale Lebensperspektive zu eröffnen.

Worauf sich das Land auf dem Wege der Demokratisierung stützen kann: auf ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau, eine relativ stabile Mittelschicht, ein breites zivilgesellschaftliches Engagement von Frauen und Männern, dem in der jetzigen Umbruchsphase eine besondere, mit Blick auf die Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung, 'komplementäre' Rolle zukommt.

Bei den ersten freien Wahlen am 23. Oktober 2011, die einen Meilenstein in der Geschichte Tunesiens setzen, haben etwa 55% aller Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Zahlreiche junge Menschen haben nicht gewählt. Nach Jahrzehnten der Scheindemokratie fehlt vielen ein Vertrauen in das Parlament als tatsächliche Vertretung des Volkes.

Die gemäßigt islamische Partei Ennahda hat mit etwas über 40% der abgegebenen Stimmen die Wahlen gewonnen. Mit ihrem Sieg war gerechnet worden, jedoch nicht in dieser Höhe. Laut eigenen Aussagen strebt Ennahda ein demokratisches System an, das islamische Werte berücksichtigt. Die Partei rückt sich selbst in die Nähe der türkischen AKP (= die islamische Regierungspartei von Tayyib Erdogan in der Türkei). Die Rechte der Frauen, wie sie im geltenden Personenstandsrecht seit Bourguiba verankert sind, sollen nicht angetastet werden. Verschiedene Äußerungen von Ennahda-PolitikerInnen nähren jedoch den Verdacht, dass hinter den Demokratie-Bekundungen auf längere Sicht eine religiöse Agenda zum Vorschein kommen könnte.

Warteschlangen vor einem Wahllokal in Tunis bei der ersten Wahl (im Oktober 2011) nach dem Sturz Ben Alis Bild: Renate Fisseler-Skandrani

Die politische Herausforderung für das neue Tunesien besteht darin, die gemäßigt islamische Partei in einen demokratischen Prozess einzubinden und das Verhältnis von Politik und Religion in der zu begründenden 2. Republik auszuhandeln. Ennahda hat unter Leitung von Hamadi Jabali eine Regierungskoalition mit Moncef Marzoukis "Kongress für die Republik" (laizistische Mitte-Links-Partei) und mit Mustapha Ben Jaffars "Ettakatol " ("Demokratisches Forum für Arbeit und Demokratie" - laizistisch sozialdemokratisch orientiert) vereinbart. Die Koalition hat fast eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Die drei Parteien teilen sich die höchsten Staatsämter: Moncef Marzouki ist Staatspräsident, Hamadi Jebali hat als Premierminister das stärkste politische Gewicht, Mustapha Ben Jaffar leitet als Parlamentspräsident die Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung.

 

Renate Fisseler-Skandrani, Tunis im Januar 2012