Schulverweigerer Moritz Neubronner: „Zu Hause konnte ich ausschlafen“

Der Bremer Schulverweigerer Moritz Neubronner war wieder in der Schule – um die mittlere Reife zu machen. Auf Dauer zurück will er aber nicht.

Hält Lernen in der Schule für ineffizient: Moritz Neubronner. Bild: Klaus Wolschner

taz: Moritz, du hast die mittlere Reife mit einem Schnitt von 1,4 geschafft – ein gutes Gefühl?

Moritz Neubronner: Ein wunderbares Gefühl. Es war ja die Frage, ob man Schulabschlüsse machen kann, ohne zur Schule zu gehen. Ich bin vier Monate lang in die Schule gegangen, habe viel gepaukt, und es hat sich gelohnt. Eine drei habe ich – in Physik. Da hatte ich Pech, der Lehrer war die meiste Zeit krank.

Wie lange bist du vorher nicht zur Schule gegangen?

Seit der zweiten Klasse nicht mehr, mehr als sieben Jahre.

War das komisch, wieder in einem Klassenraum vor einer Tafel zu stehen?

Sehr ungewohnt. Ich hatte zwischendurch mal hospitiert, aber das erste Mal seit der Grundschule war ernst. Ich habe mich aber schnell daran gewöhnt.

Woran muss man sich gewöhnen?

Das ist eine komplette Umstellung des Lebens. Zu Hause konnte ich ausschlafen. Gut, das ist vielleicht nicht so wichtig?

Naja, Pädagogen sagen, dass das frühe Aufstehen für den Biorhythmus Gift ist.

Das habe ich auch gehört. In der Schule gibt es einen Stundenplan, Pausen. Das war bei mir und meinem Bruder nicht so. Wir hatten anfangs versucht, Schule nachzuspielen zu Hause, auch aus Unsicherheit, das hat sich aber dann weiter verwischt. Die letzten Jahre habe ich gar nichts gemacht, was sich wie Schule anfühlte, Matheaufgaben oder so, sondern nur das, wozu ich gerade Lust hatte.

16, ist seit der zweiten Klasse nicht mehr zur Schule gegangen. Seine Eltern ließen ihn mit seinem jüngeren Bruder zu Hause unterrichten. 2008 zog die Familie nach Frankreich, wo Home-Schooling wie in vielen anderen Ländern erlaubt ist - in Deutschland dagegen herrscht Schulpflicht.

Wenn Jugendliche sagen, sie wollen das machen, wozu sie Lust haben, dann haben Erwachsene oft die Sorge, dass sie einfach nur abhängen.

Das kann ich gut verstehen. Wenn ich aus der Schule komme, habe ich wenig Antrieb, ein größeres Projekt anzufangen, einen Film zu drehen oder so was. Dann bin ich erschöpft und mache nur gar nichts oder fernsehen. Die ersten Monate, in denen ich nicht mehr zur Grundschule gegangen bin, habe ich auch nichts gemacht, aber dann haben wir Dinge angefangen. Wenn wir die ganzen acht Jahre nur abgehangen hätten, wäre mir sicherlich schnell langweilig geworden.

Was habt ihr gemacht?

Ich war im Sportverein, habe im Chor mitgesungen, habe Posaune gespielt, Fußball, habe Kickboxen und Thaiboxen gemacht, Kung-Fu mache ich jetzt noch. Ich habe viel gelesen, ich hatte Zeit für Dinge, für die man als Schüler vielleicht keine Zeit hat. Wenn ich jetzt den Schulabschluss mit wenig Vorbereitung geschafft habe, dann denke ich, dass dieser Weg nicht so falsch sein kann.

In der Schulklasse hat man auch Gemeinschaft. War das auch gewöhnungsbedürftig?

Ich war in Sportgruppen, das System Gruppe war mir vertraut. Ich bin sehr gut aufgenommen worden. Es ist mir leicht gefallen, mich zu integrieren, und ich habe auch darauf geachtet, dass ich mich sozial verhalte und nicht quer stelle.

Hast du noch eine Erinnerung daran, was damals, als du acht Jahre alt warst, das Problem mit der Schule war?

Das war ein schleichender Prozess. Ich war von Anfang an nicht glücklich in der Schule. Wir hatten nahe der österreichischen Grenze gewohnt, da gab es Schüler aus Österreich, die dann plötzlich nicht mehr kamen. Ich habe meine Eltern gefragt, was mit denen ist, und die haben mir erklärt, dass man in Österreich eben zu Hause lernen darf. Dieser Wunsch ist in mir gewachsen.

Deine Grundschule in Bayern war eine Montessori-Schule …

Meine Eltern hatten die sogar mitgegründet für uns.

Trotzdem war das nicht gut?

Die Schulen haben alle einen Grundzwang, egal welches System es ist.

Hast du dir den Zwang nicht nur in anderer Form selbst angetan?

Eigentlich nicht. Ich habe mir keinen Stundenplan gemacht, ich hatte kein großes Ziel vor Augen, was der Stoff sein könnte, den ich lernen will. Für den Hauptschulabschluss und für den mittleren Schulabschluss habe ich mir natürlich solche Ziele setzten müssen. Aber die Jahre davor habe ich nur gemacht, wozu ich Lust hatte. Ich habe mich mit alltäglichen Problemen beschäftigt.

Hast du eine Vorstellung, wie weit Santiago de Chile von Lima entfernt ist?

Nein. Keine Ahnung.

Was für Aufgaben hast du dir denn gestellt, bei denen man etwa Mathe lernen muss?

Daran erinnere ich mich ehrlich gesagt nicht. Ich habe natürlich, wenn ich einen Schreibtisch haben wollte, das ausgemessen. Vieles lernt man eben automatisch. In der Schule habe ich gemerkt, dass ich das in Mathe kann, was die anderen lernen mussten. Ich habe am Ende ja auch eine Eins in Mathe gemacht.

Was ist mit Mengenlehre – lernt man das auch automatisch?

Nein. Als ich mich entschlossen habe, den mittleren Schulabschluss zu machen, da war klar, dass ich mir das aneignen muss. Die Schule legt fest, was jeder wissen muss – aber jeder Schüler ist ja doch individuell. Wieso soll jeder Schüler wissen, wie viele Quadratkilometer China hat? Wer das braucht, kann das doch herausfinden.

Du bist den Weg ohne Schule mit Thomas, deinem zwei Jahre jüngeren Bruder, gemeinsam gegangen.

Ja. Meine Eltern waren nach Bremen gezogen, mein Bruder wurde in Bremen eingeschult, ist dort aber nur wenige Wochen geblieben. Ihm hat es noch weniger gefallen als mir. Er hat bei mir auch mitbekommen, dass es anders geht. Wir haben uns wunderbar ergänzen können. Einmal haben wir sämtliche Hauptstädte Europas auswendig gelernt, irgendwie hatten wir Lust, so was zu lernen und haben uns gegenseitig abgefragt.

Ist er seinem Jahrgang zwei Jahre voraus, weil er immer mit dir zusammen war?

Mag sein. Vielleicht war es ein Vorteil, dass er mit mir gelernt hat, vielleicht aber auch ein Nachteil.

Musstet ihr eure Eltern davon überzeugen, frei lernen zu dürfen?

Ich kann mich an einige Diskussionen erinnern. Sie haben aber dann gemerkt, dass ich in der Schule nicht gut klarkomme und dass das für mich nicht das Richtige war. Sie haben sich in Österreich erkundigt, wie es ohne Schule geht.

Die Eltern haben euch geholfen – jeden Tag mehrere Stunden?

Anfangs sicherlich mehr, später weniger. Wir waren oft im Alltag dabei, später haben wir eher lange Diskussionen am Küchentisch geführt. Insgesamt haben sie viel Zeit für uns gehabt.

Hast du Fremdsprachen gelernt?

Englisch kann ich gut.

Wo hast du das gelernt?

Im Internet. Ich habe öfter Computerspiele gespielt, die es nur im Internet gab, ich habe Filme im Original gesehen, weil die Synchronisation schlecht war.

Hast du dich mal mit einem Engländer unterhalten?

Mit Kanadiern. Die waren von meinem Englisch sehr angetan.

Was hat du für eine Note?

Eine 2.

Und Französisch?

Ich habe Spanisch als Fremdsprache gewählt.

Aber ihr habt doch lange in Frankreich gelebt?

Naja, in Lothringen direkt an der deutschen Grenze. Da sprachen alle deutsch.

Wo hast du Spanisch gelernt?

Ich konnte am Anfang dieses halben Schuljahres kein Wort, ich hatte dann einen netten Nachhilfelehrer. Ich habe mich da reingekniet, weil ich das Ziel vor Augen hatte, das zu lernen. Ich will im nächsten Jahr in Spanien Urlaub machen. Vielleicht liegen mir auch Sprachen.

War das leicht, sich in der Schule wieder anzumelden?

In Frankreich gibt es keinen Schulzwang, in den meisten europäischen Ländern nicht. Nachdem ich mich wieder in Bremen gemeldet habe, unterlag ich ja der Schulpflicht – die mussten mich nehmen.

Und jetzt bist du mit dem System zurechtgekommen?

Ich habe mich jetzt für ein halbes Jahr darauf eingelassen, das ist eine begrenzte Zeit. So ging das.

Nach den Sommerferien gehst du auf eine gymnasiale Oberstufe?

Wahrscheinlich nicht. Ich will danach nicht weiter zur Schule gehen, es gibt keinen Grund, die nächsten drei Jahre in der Schule zu verbringen.

Es könnte sein, dass es schön ist, in die Schule zu gehen.

Das könnte sein, ist es aber nicht. Für das halbe Jahr war es in Ordnung, aber die nächsten Jahre will ich wieder meine Freiheit genießen. Und ich will in verschiedene Berufe hineinschnuppern, Praktika machen. Für das Abitur würde ich dann eventuell später einsteigen.

Für ein Externen-Abitur müsstest du viel allein lernen.

Stimmt, aber in der Schule ist das Lernen einfach nicht so effektiv, weil man auch viel Ablenkung hat durch die anderen Schüler.

Deine Eltern sind beide Freiberufler, liegt darin für dich ein Vorbild?

Ich denke ja. Es ist ein angenehmes Gefühl, selbst seine Arbeit zusammenstellen zu können. Das möchte ich später auch.

Waren deine Eltern glücklich, als du gesagt hast: „Ich gehe jetzt wieder zur Schule?“

Mein Vater hat sich gefreut, meine Großeltern noch mehr.

Hast du eine Idee, in welche Berufsrichtung zu gehen willst?

Ich lese gerne, spreche gerne. Vielleicht mache ich eine Sprachausbildung, um professioneller Sprecher zu werden. Ansonsten interessiere ich mich sehr für Kameratechnik.

Der Beruf des Sprechers ist nicht unbedingt kreativ. Man muss meist das sprechen, was andere aufgeschrieben haben.

Stimmt, aber man kann in die Sprache seinen eigenen Stil hineinlegen.

Macht man Abitur nicht eigentlich, um zu studieren?

Im Moment bin ich noch nicht an dem Punkt, mir darüber viele Gedanken zu machen. Es gibt auch viele Berufsausbildungen, für die das Abitur die Voraussetzung ist. Ich will mir in den nächsten Jahren verschiedene Berufe genauer angucken.

Was machst du, wenn du das Zeugnis in die Hand gedrückt bekommen hast?

Viel schlafen. Und Urlaub.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.