Imaginäre Ikone

Roddy Doyle liest heute im Literaturhaus aus seinem IRA-Roman „Henry der Held “  ■ Von Michael Müller

In seinen bisherigen Romanen schilderte Doyle mit Witz und viel Sympathie für seine Figuren die Lebenswelt der Arbeitersiedlungen im Norden Dublins. Auch Moralapostel, die sich daran stießen, dass die Häufigkeit des F-Wortes in den Dialogen fast realistische Ausmaße annahm, konnten den Erfolg des ehemaligen Lehrers nicht aufhalten. Die Barrytown-Trilogie (Commitments, Snapper, Van) ist inzwischen komplett verfilmt und für Paddy Clarke Ha, Ha, Ha! gab es den Booker-Prize.

Mit seinem neuen Roman Henry der Held, der den Auftakt einer neuen Trilogie bilden soll, hat sich Doyle erstmals an einen historischen Stoff gewagt und gleich geklotzt statt zu kleckern: Der behandelte Zeitraum umfasst immerhin die Periode des irischen Befreiungkampfes vom Osteraufstand 1916 bis zum Waffenstillstand zwischen IRA und britischen Truppen 1921 – und somit historisches Nationalheiligtum der Republik. Die Führer des Aufstands von 1916 wurden vom katholisch-konservativen Nationalismus längst zu Ikonen stilisiert, die einmal mehr die Auffassung bestätigen sollten, dass Geschichte von wenigen „großen Männern“ gemacht wird.

Glaubt man Roddy Doyles neuem Roman, muss diese Geschichte neu geschrieben werden, denn eine der einflußreichsten Figuren tauchte in der einschlägigen Literatur bisher nicht auf. Henry Smart, geboren 1902 in einem Dubliner Slum. Ein Wunderkind, ein irischer Oskar Matzerath, nur alles andere als zwergenhaft: groß, kräftig, intelligent. „Von Kindesbeinen an liegen ihm die Frauen zu Füßen. Sohn eines Bordell-Türstehers, der nebenbei für einen Unterweltboss problematische Zeitgenossen aus dem Weg räumt, indem er ihnen mit seinem Holzbein den Schädel zertrümmert. Dieser Vater ist früh verschollen“; die Mutter hängt an der Flasche. Mit fünf Jahren steht Henry alleine in der Welt.

Mit dem (Ersatz-)Holzbein des Vaters als einzigem Besitz und seinem kleinen Bruder Victor im Schlepptau, schlägt sich Henry in den Straßen Dublins durch. Gaunereien und Gelegenheitsjobs halten ihn über Wasser. Den täglichen Überlebenskampf bewältigt der lebenshungrige Junge mit links, nur gegen die tödlich verlaufende Tuberkulose seines Bruders ist er machtlos.

1916 ist Henry mit seinen 14 Jahren Freiwilliger in der Citizen's Army von James Connolly, dem sozialistischen Flügel der Befreiungsbewegung. Beim Osteraufstand mischt er an vorderster Front mit. Wenige Jahre später im Unabhängigkeitskrieg ist Henry einer der erfolgreichsten Killer der IRA und erhält seine Befehle direkt von Michael Collins. Mit seiner ehemaligen Lehrerin und Ehefrau überfällt er als republikanisches Pendant zu Bonnie und Clyde Banken und jagt Armeepatroullien in die Luft. Als klar wird, dass von der Gründung der Republik nur wenige profitieren, während die drückende Armut die Masse der Bevölkerung weiter fest im Griff hat, kommt es zum Bruch zwischen Henry und der IRA-Führung: Er wird des Landes verwiesen.

All dies ist in einem rasanten Tempo und extrem unterhaltsam erzählt. Humorvoll ist Doyle wie eh und jeh. Verzichtet hat er dieses Mal jedoch auf jede psychologische Tiefe der heroischen Hauptfigur. Das Ergebnis ist ein Schelmenroman, eine aberwitzige tourde force durch die bewegte Geschichte der irischen Revolution. Durch die Stilisierung des Erzählers zum übermenschlichen Helden ist es Doyle gelungen, die Mythen der bürgerlich-nationalistischen Geschichtsschreibung zu knacken, ohne gleich den gesamten antikolonialen Befreiungskampf zu denunzieren. Mit Henry Smart hat Doyle den imaginären Volkshelden einer Geschichte von unten im besten Sinne geschaffen. Dieser holzbeinschwingende Wunderknabe ist eine allegorische Hymne auf die fortschrittlichsten Elemente der irischen Geschichte – auf einfache Menschen, die den Kampf um die Kontrolle über ihr eigenes Leben aufgenommen haben. Denn genau die hatte ihnen die Gründung der Republik eben nicht gebracht.

heute, Lesung in Englisch und Deutsch, Literaturhaus, 20 Uhr

Roddy Doyle, Henry der Held, Wolfgang-Krüger-Verlag, Frank-furt a. M. 1999, 416 S., 39,80 Mark