Pflegekinder aus Feindesland

Die Niederländer haben im Zweiten Weltkrieg unter Nazideutschland schwer gelitten. Doch trotz des Traumas der deutschen Besatzung nahmen holländische Familien zwischen 1948 und 1950 Zehntausende Vier- bis Zehnjährige aus Deutschland auf. Woher nahmen die Holländer den Großmut, die Kinder des Feindes aufzupäppeln? Über ein vergessenenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte berichtet  ■ Henk Raijer

Buurmalsen, 19. März 1950. Liebe Eltern. Ich wiege jetzt 61 Fund. Daraus seht ihr, das es mir hier sehr sehr gud geht. Herzliche Grüße, Eure Bärbel.“ Post aus Holland für die „Familie Martin, Meinerzhagen, Britische Zone, Deutschland“. Ein Brief von der Tochter, die sich nun, nach Krieg und Hungerjahren, jeden Tag satt essen kann und zu Ostern „richtig schöne Schuhe“ bekommt: bei Pflegeeltern in Holland.

Zwei- bis dreimal die Woche hat die damals achtjährige Bärbel in den drei Monaten ihres Aufenthalts bei der Familie den Tonkelaar nach Hause geschrieben. An die zwanzig Geschichten über Essen, Gewogenwerden, neue Kleider, Haustiere und Kindergeburtstage. Die Berichte, verfaßt in jener sorgfältigen Kinderhandschrift mit den großen, sauber bis zur oberen Linie gezogenen Buchstaben auf inzwischen vergilbtem Briefpapier, verraten das Bedauern des Mädchens, daß Eltern und Geschwister es nicht so gut haben. Unverkennbar aber auch, daß nichts Bärbel zurück nach Deutschland zieht: „Buurmalsen, 27. April 1950. Liebe Eltern. Die Zeit vergeht so snel. Bald komme ich wieder nach Haus (ich will aber nicht nach Haus). Wist ihr was ihr müßt nach Holland kommen, in Holland is het viel schöner als in Duitschland.“

Amüsiert und melancholisch zugleich blickt Bärbel Martin ein halbes Jahrhundert später auf diese Sätze. Auf ihre Zeichnungen und die farbigen Bildchen mit frommen Motiven, die sie in der Sonntagsschule von Pfarrer den Tonkelaar gesammelt hat. „Oom Dolf und Tante Coby haben mich wie ihr eigenes Kind betrachtet“, sagt die 57jährige. „Und ich habe mich voll auf dieses neue Leben eingelassen.“

Für die kleine Deutsche, die bis dahin nur Bombennächte, Hamsterfahrten und die elterliche Mansardenwohnung kannte, war das Leben im großen Pfarrhaus von Buurmalsen das Paradies: „Eier, Milch und Käse, Klavierspielen, Fahrradfahren und Ausflüge nach Nijmegen, Amsterdam und Leiden – sie haben es mir an nichts fehlen lassen.“ Um so schwerer sei ihr die Rückkehr in die inzwischen fremde Heimat gefallen. „Ich wollte nicht nach Hause“, erinnert sich Bärbel Martin. „Wie der Sonderzug aus Holland mit Hunderten von Kindern in Dortmund ankam und ich meine Mutter auf holländisch begrüßte, war das für uns beide ein Schock.“

Seit einigen Wochen ist Bärbel Martin, die heute als Historikerin in Berlin lebt, nun freudig erregt. Jahrelang hat sie mit der Erinnerung gelebt. Und mit dem Bedauern, daß nach dem Abschied von Buurmalsen der Kontakt zu Dolf und Coby den Tonkelaar gänzlich abgerissen sei. Jetzt hat sie ihre Pflegemutter von einst durch einen Zufall wiedergefunden – eine Zeitungsannonce und ein Treffer im Internet machten es möglich: Bald schon werden die beiden sich wiedersehen, sie habe bereits mit der heute 86jährigen Dame telefoniert, sagt die schmale Frau, die inzwischen selbst grauweißes Haar hat. „Ihre Stimme bewirkte, daß ich mich erinnern mußte. Die Kinderverschickung nach Holland war lange Zeit ein vergessenes Kapitel in meinem Leben.“

Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte überhaupt. Denn außer Erzählungen und Briefen wie jenen der achtjährigen Bärbel sowie einer Handvoll Dokumente in den Archiven deutscher Wohlfahrtsverbände erinnert wenig an die humanitäre Großmaßnahme der Jahre 1948 bis 1950.

Die spontane Bereitschaft, so kurz nach dem Trauma der Nazi-Besatzung für drei Monate ein deutsches Kind aufzunehmen, war in Holland kein Einzelfall. Dazu beigetragen haben mag, daß Holland ausgesprochen bäuerlich geprägt war und früher von den Segnungen des Marshallplans profitierte als so mancher Nachbarstaat.

Insgesamt 69.000 von Krieg, Flucht und Hunger gezeichnete Kinder aus Deutschland, aber auch aus Österreich, Ungarn und Frankreich sind damals in holländischen Pflegefamilien aufgepäppelt worden. An die 40.000 Familien waren dem Appell ihrer Kirche gefolgt und hatten sich bei den zuständigen Hilfskomitees gemeldet – trotz der prekären wirtschaftlichen Lage, in der viele sich in den Jahren des Wiederaufbaus selbst noch befanden.

Die Würdenträger des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen in Deutschland, der Caritas und der Arbeiterwohlfahrt staunten nicht schlecht, als ihnen im Juni 1948 völlig unvermittelt das Angebot der holländischen Kirchen auf den Tisch flatterte. Die deutschen Verbände, überfordert durch die immer größer werdende Zahl von Flüchtlingen aus Ostpreußen, Schlesien und Böhmen, nahmen gerne an. Und beeilten sich, ihre Synodalen darauf hinzuweisen, sie möchten doch bitte die Kinder „mit großer Strenge und wirklich nach objektiven Dringlichkeitsmerkmalen aussuchen“. Wenig später heißt es in einem Schreiben an die Synoden, das sich – wie alle nachfolgend zitierten Dokumente – im Archiv des Diakonischen Werks in Münster befindet: „Die Auswahl nach sozialen und gesundheitlichen Gesichtspunkten muß streng sein, weil die Holländer ein Bild der echten Not sehen möchten.“

Die Richtlinien für die Entsendung von Kindern aus evangelischen Familien in die Niederlande kamen vom „Interkerkelijk Bureau Pleegkinderen“ (IKB) in Den Haag. In Frage kamen demnach Kinder zwischen vier und zehn, in begründeten Ausnahmefällen elf Jahren. Sie mußten „frei von körperlichen und geistigen Krankheiten sein, inbesondere ansteckungsfrei“. Grundsätzlich sollten etwas mehr Mädchen berücksichtigt werden und die Auswahl ohne Ansehen von Rang und Stand erfolgen. Die Kinder sollten für den Aufenthalt unbedingt eine bescheidene Ausstattung an Garderobe haben. „Spekulation auf eine neue Ausstattung in Holland hat eine ungünstige Wirkung.“

Auch politisch schränkte das IKB den Kreis der in Frage kommenden Kinder ein. So hieß es am 19.8.1948 in einem Schreiben an den Oberkonsistorialrat des Zentralbüros des Evangelischen Hilfswerks in Stuttgart: „Aus Gründen praktischer Psychologie müssen wir Sie aufs Dringendste bitten, bei der Auslese immer darauf zu achten, dass diese Kinderverschickung die Gefühle der Niederländer den Deutschen gegenüber, wie sich diese in den Besatzungsjahren gestaltet haben, soviel wie möglich schont.“

Daher empfehle man den deutschen Kirchenstellen, bei ihrer Auswahl „Kinder folgender Kategorien von der Aussendung auszuschließen: Kinder von Eltern nationalsozialistischer Gesinnung, Kinder von holländischen Frauen, die nach 1940 einen Deutschen geheiratet haben, und Kinder, deren Väter eine führende Stellung während der Besatzungszeit innegehabt haben und von denen nationalsozialistische Propaganda zu befürchten ist“.

Bis der erste Sonderzug mit 500 Kindern vorwiegend aus Nordrhein und Westfalen am 9. Dezember 1948 starten konnte, mußten die deutschen Hilfswerke noch jede Menge Formalitäten klären und Verhandlungen führen: mit den Initiatoren der „Aktion Holland“ über die Durchführung der Transporte, mit der britischen Militärregierung über die Erteilung von Ausreisevisa und mit dem holländischen Generalkonsul in Düsseldorf über die Genehmigung der Aktion durch die Regierung in Den Haag.

Währenddessen sahen sich nach einer Reihe von Zeitungsnotizen über die anstehende Kinderverschickung Pfarrer und Gemeindeschwestern mit einer Flut von Anfragen konfrontiert. In Hunderten zum Teil handgeschriebener Anträge ist das ganze Ausmaß der Not der Nachkriegsjahre dokumentiert. So bittet eine Gemeindeschwester aus Höxter in Westfalen die Koordinatoren im Bielefelder Hauptbüro der Landeskirche, sie möchten Rosemarie D., geboren am 7.12.39 in Bartenstein/Ostpreußen, bei der Hollandverschickung berücksichtigen: „Rosemarie ist ein kleines, blasses Mädchen mit großen hungrigen Augen. Der Vater des Kindes ist im Mai dieses Jahres in russischer Gefangenschaft gestorben. Die Mutter, eine Frau von 31 Jahren, ist körperlich wie seelisch völlig gebrochen. Sie bestreitet den Unterhalt für sich und ihre vier Kinder. Daß die Kinder dabei nur bescheiden gesättigt werden, ist kaum zweifelhaft.“

Verschollene Väter, Mütter, die bei der „Austreibung“ ums Leben gekommen waren, verheerende Wohn- und Einkommensverhältnisse – die Fürsorgerinnen und Mitarbeiter der kirchlichen Sozialstationen waren mehr als dankbar, daß die nunmehr möglich gewordene Kinderverschickung nach Holland die schlimmste Not zumindest für kurze Zeit würde lindern helfen. Und so schrieben, beantragten und befürworteten sie.

Wie auch jener Pastor im Westfälischen über Peter B., geb. 29.12.41, an die Synode Paderborn: „Der Junge ist unterernährt und kriegsbeschädigt. Er hat Splitternarben im Gesicht und zwei Zehen beschädigt. Der Vater war in der Partei, ist aber in Russland schwer krank von Kameraden im Schnee zurückgelassen worden. Peter hat vier Geschwister, bisher noch keines aus der Schule. Die Mutter schlägt sich mit ihrer Kriegshinterbliebenenrente mühsam durch. Die Wohnung (1 Zimmer) ist schlecht, dunkel und feucht. Die Verschickung wird ausdrücklich befürwortet.“

Auch für Hannelore Mallmann, die 1943 in Köln ausgebombt worden war und seither in einem Dorf im Bergischen lebte, konnte es nur besser werden. „Wie meine Mutter mich fragte: Willst du nach Holland, war ich sofort Feuer und Flamme“, erinnert sich die 59jährige Versicherungsfachfrau. Als knapp neunjähriges Mädchen gehörte Hannelore Mallmann zu den ersten verschickten Kindern: Mit einem schäbigen Köfferchen und gelbem Pappschild um den Hals stieg sie im Spätherbst 1948 in den Sonderzug nach Venlo. Betreut wurden die etwa fünfhundert Kinder aus katholischen Familien während der Fahrt von einem Team des niederländischen Roten Kreuzes, das damals sämtliche Kinderverschickungen nach und von Holland durchgeführt hat.

Hannelore Mallmanns Begeisterung über den unverhofften Ausflug legte sich alsbald. Denn kaum waren in Venlo die Grenzformalitäten erledigt, brachten die Fahrer des Roten Kreuzes die Kinder nicht etwa zu ihren Pflegefamilien, sondern zur Quarantäne in das nahegelegene „Durchgangslager“ Horst-America. Hier warteten Mitarbeiterinnen der „Nationale Commissie tot Uitzending van Kinderen“, wenig später umbenannt in „Centrale Raad voor Buitenlandse Kinderzorg“, ein eigens für die Aktion gegründetes Komitee, das Aufnahme und Unterbringung der ausländischen Kinder koordinierte.

Was Bärbel Martin im nachhinein als „ungemütliche Übergangssituation“ bezeichnet, war für Hannelore Mallmann ein Alptraum: „Da war ein riesiger Zaun, dazwischen eine Reihe langer Holzbaracken. Wir schliefen in Stapelbetten auf Strohsäcken. Vor allem die ganz Kleinen heulten die ganze Nacht. Immerzu kam eine Schwester und versuchte zu trösten. Am nächsten Morgen mußten wir uns zwischen den Baracken in Reih und Glied aufstellen und erhielten schon vor dem Frühstück die ersten Impfungen. Anschließend ging es zum Röntgen, manchen Mädchen wurde der Kopf kahlgeschoren. Eine Woche ging das so mit den Untersuchungen. Einige wurden wegen Ansteckungsgefahr zurückgeschickt.“

Ähnliche Erinnerungen hat Elisabeth Joachim an die ersten Tage ihres „Erholungsurlaubs“. „Schon im Zug waren alle so verschreckt dagesessen“, erzählt die 57jährige, die damals schmächtig und viel zu klein für ihr Alter war. „Alle hockten nur ängstlich auf ihrem Strohsack, hatten Heimweh. Ich dachte damals, ich komme hier nie wieder raus“, erinnert sie sich an das Lager in Horst-America. „Es erzählte einem dort ja niemand, wann es zu Ende gehen sollte.“

Etwa zwanzig Betreuerinnen hatte die „Nationale Commissie“ für das Lager Horst-America angestellt. Eine von ihnen war die 23jährige Maria van Rhijn. „Wichtigste Voraussetzung für die Einstellung waren Deutschkenntnisse und Erfahrung in der Familienfürsorge“, erzählt die noch heute agile Venloerin. „Beim ersten Schub waren wir schockiert, wie armselig die meisten aussahen. Noch heute sehe ich sie vor mir, diese blassen Gesichter, die ausgemergelten Körper in ihren löchrigen Mäntelchen.“

Auf Anordnung des niederländischen Zolls mußten die Helferinnen die Koffer der Kinder inspizieren. „Es kam schon mal vor, daß wir zwischen den Sachen Brotreste fanden, die schon verschimmelt waren“, erzählt Maria van Rhijn. „Aber keines der Kinder wollte sich davon trennen.“

Die Vergangenheit der Eltern dieser Kinder im „Dritten Reich“ sei kein Thema gewesen. „Darüber hat man uns nichts erzählt“, sagt Maria van Rhijn, deren späterer Mann im Konzentrationslager war. „Und außerdem: Es waren doch Kinder, da half man einfach. Wir kannten sämtliche deutschen Kinderlieder, haben vermutlich sogar ,Maikäfer, flieg' gesungen.“

Der Pfarrer hatte eines Sonntags um Hilfe gebeten, da half man eben. In den Niederlanden dieser Jahre, wo neben den katholisch und protestantisch geprägten Säulen der Gesellschaft der Staat nur eine untergeordnete Rolle spielte, handelten die Menschen aus christlichen Motiven: Sie nahmen das Evangelium wörtlich und richteten sich nach der von der Kanzel verkündeten Botschaft.

„Nach der Besatzungszeit hätten doch die meisten am liebsten jedem Deutschen die kalte Schulter gezeigt, sollte man meinen“, sagt der 60jährige Jan Huys. Im Rückblick bewundert er den Großmut seiner Eltern, die wie selbstverständlich Elisabeth Joachim für drei Monate aufnahmen. Nicht nur einmal hätten sie Juden bei sich auf den Bauernhof versteckt. Ein Onkel, der im Widerstand war, sei im KZ umgebracht worden. Und im Herbst 1944 sei der Hof infolge der alliierten Offensive völlig zerstört worden.

Meine Eltern waren sehr gläubige Katholiken. Da wurde nicht lange überlegt: Einem Kind mußte geholfen werden. Wir waren zu zehnt zu Hause, viel hatten wir nicht, so kurz nach dem Krieg. Aber Brot, Eier und Kartoffeln gab es genug.“

Für die siebenjährige Elisabeth Joachim war nach der „schrecklichen Zeit im Lager“ der Aufenthalt bei der Familie Huys in Grubbenvorst bei Venlo das Schlaraffenland. „Nicht nur weil mich Mutter Huys immer so verwöhnt hat, als ich wochenlang Keuchhusten hatte, sondern auch weil ich als uneheliches und einziges Kind plötzlich so viele liebe Geschwister hatte“, erinnert sich die Schauspielerin, die seit den siebziger Jahren regelmäßigen Kontakt zu ihrer früheren Pflegefamilie hat. Auch Holländisch habe sie damals schnell gelernt. „Als aus drei Monaten am Ende sechs geworden waren, sprach ich bei meiner Rückkehr nur holländisch. Für meine Mutter, die mich so sehr vermißt hatte, war das anfangs ganz schön schwer.“

Integriert hatte sich auch Hannelore Mallmann sehr schnell: bei der Familie Tol in Diemen nahe Amsterdam. „Nicht das Essen, sondern die Herzlichkeit von vader en moeder haben aus mir schon bald eine Holländerin gemacht“, sagt die 59jährige, die heute in Pulheim bei Köln lebt. „Ich weiß bis heute nicht, wohin ich wirklich gehöre. Seit Jahrzehnten fahre ich mindestens zweimal im Jahr nach Holland.“

Als damals nach anfänglichem Fremdeln das Eis gebrochen gewesen sei und sie in der Nonnenschule die ersten Fleißmärkchen bekommen habe, da hätte sie ihr Zuhause bald vergessen. „Es war eine total andere Welt als die, die ich bis dahin kannte: eine von Enge, Feuchtigkeit und Bezugsscheinen.“ Noch heute sei ihr der Duft des Kolonialwarenladens in Diemen erinnerlich, in den sie oft mit ihrer „Schwester“ Tini zum Einkaufen ging. Mit den anderen deutschen Kindern in Diemen habe sie nichts zu tun haben wollen. „Ich hatte abgeschlossen mit Deutschland.“

Hannelore Mallmanns „Schwester“ Tini Tol, die jüngste von neun Kindern, erinnert sich noch gut, wie eine der Nonnen zu ihnen nach Hause gekommen sei und ihre Mutter gebeten habe, der Hannelore doch lange Wollstrümpfe zu stricken. „Es war Winter, und Hannelore trug diese typisch deutschen Pluderhosen aus Baumwolle. In einer katholischen Schule aber war den Mädchen das Tragen von Hosen nicht erlaubt, und in der Messe, in die wir jeden Morgen vor der Schule gingen, schon gar nicht“, sagt die heute 63jährige. Tini Tol verbindet eine fünfzigjährige Freundschaft mit der Pflegeschwester von einst. „Hannelore wollte nicht mehr fort“, sagt sie, „und meine Eltern hätten sie am liebsten adoptiert.“

Über dreihundert Kindertransporte dieser Art hat das niederländische Rote Kreuz bis September 1950 auf die Beine gestellt. In der Regel fuhren die Sonderzüge aus Berlin, Wien und Budapest los und sammelten unterwegs an zentralen Sammelpunkten wie Dortmund oder Stuttgart weitere Kinder ein. Daß dabei die Organisation nicht immer reibungslos verlief, daß Kinder aus der Ostzone oder dem blockierten West-Berlin anfangs mehrere Tage unterwegs waren oder wegen unterschiedlicher Bestimmungen über offene TBC zurückgeschickt wurden, ist angesichts der politischen Rahmenbedingungen der Zeit nicht verwunderlich.

Seltsam mutet dagegen an, mit welch überheblichem Kleingeist manche Mitarbeiter deutscher Wohlfahrtsverbände intern über die Zusammenarbeit mit den Initiatoren des Programms lästerten. So heißt es am 2. Januar 1949 in einem Schreiben des Stuttgarter Zentralbüros des evangelischen Hilfswerks an das Hauptbüro Bielefeld über die Arbeit des IKB: „Die Holländer“ hätten beim ersten Transport ja wohl „völlig versagt“. Mit Blick auf den zweiten am 4. Januar könne man dem zuständigen Koordinator nur „kondolieren“.

Reagierten „die Holländer“ auf die später auch an sie direkt gerichtete Kritik an ihrer Arbeit zunächst höflich-distanziert, so wurde der Ton nach ersten Kompetenzstreitigkeiten deutlich schärfer. Das dokumentiert etwa ein Brief vom 15. März 1949 aus dem Kreis der niederländischen Initiatoren an den Präsidenten des evangelischen Hilfswerks, Dr. Eugen Gerstenmaier, der wenig später Präsident des Deutschen Bundestages wurde. In den Mitteilungen des Hilfswerks, monierte der Schreiber, sei zu seinem großen Erstaunen zu lesen, daß „die ganze Aktion für die Britische Zone beim Hauptbüro Bielefeld (liegt), dem es in langwierigen Verhandlungen gelungen ist, die niederländische Kirche zu bewegen, bedürftige Kinder aufzunehmen“.

Eine solche Darstellung, so heißt es in dem Brief an Dr. Gerstenmaier, zeige, „wie wenig Verständnis das Hilfswerk für die Tatsache hat, dass Holland, nachdem es durch deutsche Flieger, später durch deutsche Besatzungstruppen ein zerstörtes und armes Land geworden ist, trotzdem bereit ist, deutschen Kindern zu helfen. Dergleichen Nachrichten wie die Ihrige sind wenig dazu angetan, uns Mut zu machen, dass diese Kindertransporte in Deutschland auch nur irgendwie richtig verstanden werden.“ Mitte des Jahres 1950 ging die „Aktion Holland“ dem Ende zu. Am 23. Juni hieß es in einem Brief an das Zentralbüro des evangelischen Hilfswerks: „Das IKB hat beschlossen, die Kindertransporte zu beenden. Die Lebensmittellage in Deutschland und den Niederlanden unterscheidet sich nicht mehr so sehr. Bei der ärztlichen Untersuchung hat sich herausgestellt, daß nur noch etwa 10-20 Prozent der Kinder es wirklich nötig hatten. Was die Flüchtlingskinder (aus den Lagern) betrifft, so haben diese es wohl nötig, doch macht die Fremdenpolizei hier Schwierigkeiten. Sie befürchtet, daß wenn die Kinder einmal hier sind, die Behörden in Deutschland sie nicht mehr zurückkehren lassen wollen und sie von unseren Leuten als aufgenommen betrachten. Dazu kommt, daß inzwischen ein Großteil der Kinder so asozial ist, daß es schwierig ist, sie in geordneten Verhältnissen unterzubringen.“ Bärbel Martin hat noch heute großen Respekt vor den Holländern. So viele hätten, wie ihre Pflegeeltern Dolf und Coby den Tonkelaar, ohne lange zu zögern, geholfen. Ganz besondere Hochachtung empfinde sie vor ihrem „oom Dolf“, der nur wenige Jahre zuvor als Zwangsarbeiter nach Potsdam verschleppt worden war. „Der Deutschenhaß, die Ressentiments, von denen man seit den fünfziger Jahren hörte, paßten nicht recht zu dem Bild, das ich von den Holländern hatte“, sagt sie. „Vielleicht haben die Leute in Buurmalsen einen Haß auf die Deutschen gehabt. Sie haben es mich aber in keinster Weise spüren lassen.“

Hatte Coby den Tonkelaar Vorbehalte, als es hieß, da kommen Kinder von Deutschen nach Buurmalsen? „Nicht im geringsten“, sagt die ehemalige Pflegemutter, deren Mann Dolf vor sieben Jahren gestorben ist, resolut. „Um Kinder muß man sich kümmern, egal aus welchem Land sie kommen. Wir hatten damals doch selbst so viel Entbehrungen erlebt, vor allem im letzten Kriegsjahr. Und wenn man bedachte, was diese Kleinen alles durchgemacht hatten. Die waren ja so dünn.“

Nein, für sie und die siebzehn anderen Pflegefamilien in Buurmalsen habe es nichts zu überlegen gegeben, sagt Frau den Tonkelaar. „Wir fanden es großartig mit Bärbel, und als sie uns nach drei Monaten verließ, hat's Tränen gegeben. Ich bin so gespannt auf unser Wiedersehen.“

Henk Raijer, 45, ist „Tagesthema“-Redakteur und arbeitet seit 1986 für die taz