Elend einer Kader-Biographie

Während sich in Moskau Dokumente über die antisemitischen Scherze des Genossen Mielke alias „Bach“ fanden, verlas die Berliner Strafkammer einen Lebenslauf Mielkes aus dem Jahr 1951  ■ Von Götz Aly

Moskau/Berlin (taz) — Eines lernte Erich Mielke als Schüler der Moskauer Lenin-Schule mit Sicherheit: zu schweigen. In einer der damals üblichen Kritik- und Selbstkritiksitzungen bimste man ihm am 17. November 1933 laut Protokoll ein: „Wir haben jetzt in unserer deutschen Partei ganz schlimme Erfahrungen, daß verantwortliche Parteifunktionäre vor der Polizei reden. Sie verschweigen ihre eigene Vergangenheit vor den Parteigenossen und legen eine Geschwätzigkeit an den Tag, wo sie schweigen sollten, und sind ehrlich, wo man lügen müßte. In den letzten 14 Tagen ist unsere Partei in Deutschland ganz schwer hereingefallen. Ihr werdet davon in den nächsten Tagen in der Zeitung lesen.“ Und weiter lernte Mielke an diesem Tag: „Lenin hat das unterstrichen, wir müssen verschwiegen sein wie das Grab und den Feind belügen und betrügen, weil das unserer Klasse nutzt.“

Entsprechend dieser Maxime schwieg Erich Mielke gestern weiter. Das Gericht wies den Antrag der Verteidigung zurück, das Verfahren wegen immer neu auftauchender Akten vorläufig zu unterbrechen, und die Staatsanwaltschaft reichte zwei neuerdings aufgefundene Akten nach. Staatsanwalt Hartwig Stamer widersprach dem Antrag des Mielke- Verteidigers Dr. König, die Protokolle der Jahre 1933/34 insgesamt nicht zu verlesen. Allerdings erkannte Stamer an, daß damals „SA und SS in Berlin wüteten und daher sehr genau zu prüfen ist, wie einzelne Vernehmungen zustande gekommen sind“. Insbesondere sieht die Staatsanwaltschaft die Aussagen des damaligen Mitbeschuldigten und später zu vier Jahren Zuchthaus verurteilten Johannes Bröll als unverdächtig an. Bröll war 1932 von der KPD zur NSDAP und SA übergetreten und hat sich — so vermutet der Staatsanwalt— aus freien Stücken geäußert. Den Antrag der Verteidigung, Dr. Johannes Tuchel von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand als Sachverständigen zu laden, wies Stamer unter Hinweis auf die Kompetenz der versammelten Juristen ebenfalls ab. Die tun sich allerdings schon mit den spezifischen damals von NSDAP und KPD gepflegten Sprachen, mit dem jeweiligen Abkürzungskauderwelsch, sichtlich schwer. Als der Vorsitzende Richter Seidel gestern einen Lebenslauf Mielkes aus dem Jahr 1951 verlas, hatte man nicht den Eindruck, daß er auch nur annähernd verstand, was mit den jeweiligen Polit-Kürzeln alles gemeint sein könnte. Die Nebenklägerin Dora Zimmermann, Tochter des 1931 erschossenen Polizeioffiziers Paul Anlauf, beantragte, die in der taz vom 21. 3. veröffentlichten Lebensläufe und Tatbekenntnisse des Todesschützen Erich Ziemer als Beweismittel in den Prozeß einzuführen. Ziemer war, entsprechend der Anklage von 1934 und entsprechend seinem eigenen in Moskau aufgefundenen Lebenslauf, einer der beiden Männer, die am 9. August 1931 schossen.

Die Selbstherrlichkeit des Genossen Mielke-Bach

Ob nun Mielke der Mittäter Ziemers war, ist noch nicht bewiesen. Sicher ist allerdings: Die beiden besuchten von 1932 bis 1934 gemeinsam die Lenin-Schule in Moskau: die Eliteschule der Kommunistischen Internationale zur Ausbildung von Berufsrevolutionären. Jeder Schüler trug Decknamen — Mielke nannte sich „Paul Bach“, Ziemer hieß „Georg Schlosser“. Beide wurden sie auch wegen der „wegen der Bülowplatzsache von der KPD in die S.U. geschickt“, so steht es nicht nur in dem Moskauer Lebenslauf Ziemers, sondern fast wortgleich in dem von Mielke 1951 verfaßten Lebenslauf. Weiter heißt es dort: „Meine Eltern und Geschwister wurden 1933 in meiner Angelegenheit verhaftet, machten aber keine Angaben.“

Laut Lebenslauf von 1951 nahm Mielke in den 30er Jahren „an den Prozessen gegen die Verräter und Feinde der Sowjetunion teil“, stellte also ein Teil der Claque in den stalinistischen Schauprozessen. Darüber hinaus finden sich im Moskauer Parteiarchiv der KPdSU auch einige Protokolle zu seiner Schulzeit:

Die Studenten wurden von den Landessekretariaten beim Exekutivkomitee der Komintern vorgeschlagen und vom Zentralkomitee der KPdSU bestätigt. Für diesen Zweck mußte für alle Aspiranten der Lenin- Schule „unbedingt der Nachweis ihrer aktiven Beteiligung an der revolutionären Bewegung“ erbracht werden. Die SchülerInnen lebten in vollständiger Abschottung von der Außenwelt. Ihnen durften keine „Zeitungen und politische Literatur“ zugeschickt werden, es war ihnen untersagt, die „Kommandierung an die Schule“ selbst engen (Partei-)Freunden oder der eigenen Familie mitzuteilen. Deshalb mußten „die Auswahl und Absendung der Studenten sorgfältig geheimgehalten werden“— der Besuch von Angehörigen war „kategorisch verboten“.

Die deutsche Abteilung der Lenin-Schule nannte sich, wohl wegen der besonderen revolutionären Bedeutung der KPD, „Sektor A“ — der „führende Sektor der gesamten Schule“. Denkwürdig ist das oben zitierte Protokoll der „Abschlußversammlung zur Parteireinigung des Sektors A“ vom 17. November 1933. In seiner Einleitungsrede hob der „Vorsitzende der Reinigungskommission“, „Gen. Appen“, hervor, daß die Parteiorganisation des deutschen Sektors als „bolschewistisch konsolidierte Organisation“ anzusehen sei, der es gelinge, „den Zweifrontenkampf für die Generallinie der Partei und der Komintern durchzuführen“. Dann aber hagelte es „ernste Mängel, die während der Reinigung des gesamten Schulkollektivs bemerkt werden konnten“: fehlende „bolschewistische Selbstkritik“, „Tendenzen zur familiären Einstellung im Sektor“, „gröbste Verletzung der Konspirationsregeln“, Nachsichtigkeit gegenüber einzelnen aufgrund „persönlich freundschaftlicher Beziehungen“. Daraus folgte für die Parteiorganisation: „Sie muß das politische Gesicht eines jeden einzelnen Genossen noch besser kennen.“

Anschließend wurden die Überprüfungsergebnisse für jeden einzelnen deutschen Lenin-Schüler bekanntgegeben. Die Kritik an Mielke- Bach fiel sehr persönlich aus, protokolliert in holprigstem Kaderdeutsch: „Während der Reinigung sind folgende Tatsachen in Erscheinung getreten, daß bei Bach solche Momente einer Selbstüberheblichkeit vorhanden sind, sogar Selbstgefälligkeit, Selbstherrlichkeit und in Verbindung hiermit ein bestimmtes Isoliertsein. Nun, es ergab sich, wenn er selbst solche gute Meinung von sich hat, daß die anderen Genossen, die sich als einfache Sterbliche gefühlt haben, sich von ihm zurückgezogen haben, und er erwies sich als alleinstehend. Der Lektor, welcher sprach anläßlich der Reinigung Bachs, hat festgestellt, daß Bach oberflächlich sei, daß er überstürzt ist in seinen Schlußfolgerungen... Nun, Genossen, es kommt auch vor, daß er antisemitische Scherze macht. Man muß sich klar darüber sein, daß ein wirklicher Antisemitismus von einem antisemitischen Scherz so gering wegsteht, daß wir mit einem unbewaffneten Auge diese Spannung nicht übersehen können. Anders formuliert kann man sagen, daß antisemitische Scherze schließlich Antisemitismus sind. Genosse Bach muß sich diese Frage durch den Kopf gehen lassen.“

Ein Treppenwitz am Rande: Während Bach-Mielke in seinen Lebensläufen immer betonte, daß er gegen die „linksradikalen-trotzkistischen Strömungen in der Partei“ ankämpfte, demonstrierten vor dem Gericht die letzten „harten Trotzkisten“ für den Altstalinisten. Sie forderten: „Freiheit für Erich Mielke!“