Digitalismuskritik: Fauler Zauber

Wolf Lotter fragt: Seid ihr schon alle digitalisiert – oder habt ihr noch alle Tassen im Schrank?

Bild: dpa

Von Wolf Lotter

Um zu verstehen, was läuft, macht es manchmal Sinn, stehenzubleiben und sich umzusehen. Im Jahr 1949 dreht der französische Regisseur und Schauspieler Jacques Tati seinen ersten Kinofilm, Jour de fête, auf Deutsch Tatis Schützenfest. In ein Dorf kommt der Fortschritt an, und zwar in Form einer Kinovorführung im Wirtshaus. Dort wird ein Film über das amerikanische Postwesen gezeigt. Diese Post ist, so sieht man, in der Lage, Briefe und Pakete mit irrem Tempo von A nach B zu befördern. Luftpost, Expresspost, Hauptsache schnell. All das sieht auch der gemütliche Dorfbriefträger, der diesen Job mit dem Fahrrad erledigt. Er ist der Held des Films. Im Wirtshaus wird er von seinen Mitbürgern angesichts des enormen Tempos der amerikanischen Post verlacht.

Was soll er machen?

Er schnappt sich sein altes schwarzes Postrad, seine schwere Umhängetasche und rast von nun an über Feld und Flur, Straßen und Gassen und wirft Briefe und Karten einfach links und rechts weg. Dazu ertönt sein bald berühmt-berüchtigter Schlachtruf »Rapidité! Rapidité!«

Rapidité?

Tatis erst kürzlich verstorbener Landsmann Paul Virilio hat für unsere Zeiten den Begriff des „rasenden Stillstands“ geprägt. Man ist dauernd in Bewegung, kommt aber nicht voran. Das ist insbesondere bei Sachen der Fall, von denen jeder glaubt, sie wären der Inbegriff des Fortschritts. Die Digitalisierung. Was ist das eigentlich?

Mitlaufen reicht nicht. Das führt immer unter den Aluhut. Dort ist es auch dunkel, wenn die Mehrheit ihn sich über den Kopf zieht.

Digitize or die!

Regierung, Verbände, die Generation Y und Z, Marketingabteilungen und Medien rufen „Digitalisiert euch!“. Wer sich nicht digitalisiert, verliert! Digitize or die! Rapidité! Wer fragt, wohin die Reise geht und zu welchem Zweck, gilt als Querulant und Reaktionär.

Die Digitalisierung begann ungefähr zu dem Zeitpunkt, an dem Jacques Tati sein Schützenfest drehte, und sie begann aus ernstzunehmenden Gründen. Es ging um einen weiteren Schritt in der Automatisierung, die der Menschheit viel harte Arbeit und Ärger erspart. Statt sich in aufreibenden Routinen und Maloche zu erschöpfen, schafft die Technologie Zeit für mehr schöpferische Tätigkeit oder Muße. Davon träumte nicht nur Marx. Doch bis heute zwingt die Automatisierung Leute wie Tatis Briefträger auf und ins Rad, treibt die noch mehr an, die eigentlich von der Technologie profitieren sollten.

Es ist keineswegs Konsens, dass der Fortschritt dem Menschen dient, und das kann ja nur heißen: dessen Selbstbestimmung ermöglicht und unterstützt. Wäre es so, dann würden die Parteien, die Organisationen, die Unternehmen selbst, die Lehrer und die Medien die Menschen zur Selbstbestimmung, zum selbstständigen Denken ermuntern. Die Regierungen würden sich seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, auf die Zeit nach der Arbeitsgesellschaft vorbereiten. Man würde die Menschen zur eigenen Entscheidung ermutigen.

Mitmachen, einreihen, Klappe halten

Das Gegenteil ist der Fall. Mitmachen, einreihen, Klappe halten – der ganze alte deutsche Plunder zeigt sich auch in der Art und Weise, wie Digitales uns entgegentritt. Die Digitalisierung ist mittlerweile ein ideologisches Konzept geworden, zum Digitalismus.

Leute wie Steve Jobs dachten, als sie jung waren, noch so: Persönliche Computer helfen dem Individuum dabei, sich zu emanzipieren, an Wissen heranzukommen, das zuvor nur große Organisationen hatten. Das Digitale war eine Ermächtigung, ein Echo der Sechszigerjahre, in der die frühe Konsumgesellschaft durch die Idee der Selbstbestimmung erschüttert wurde. Selbstbestimmung bedeutet immer, die Wahl zu haben, selbst zu entscheiden. Fehlt die, reden wir von Selbstbetrug.

Digitale Technologie ist ein Mittel zum Zweck, und deshalb muss vordergründig über den Zweck gesprochen werden, nicht über das Werkzeug. Das ist ja das Problem mit FDP-Chef Christian Lindners Wahlkampfspruch vom »Digital first, Bedenken second«, das eigentümlich Deutsche daran, bei dem alles eine Frage der Technik ist. Hauptsache, die Räder rollen, der Strom fließt und die Leute haben was zu tun.

Es geht um Freiheit

Nur eine kleine Minderheit hat bisher verstanden, dass die digitale Automation vor allen Dingen eine kulturelle und soziale Innovation ist. Es geht um neue Arbeit, um Grundversorgung, um Entwicklung, die abseits der Lohnarbeit stattfindet. Es geht um Zugänge zu Wissen und Bildung, und es geht um eine massive Erleichterung des Alltags für viele, die in der Diskussion gar nicht gesehen werden – die, die heute noch die schmutzigen, schlechtbezahlten Routinejobs machen. Es geht um die Befreiung des Einzelnen von Zwängen, das ist der Zweck, es geht um mehr Freiheit, überall. Um was denn sonst, ihr Komiker?

Gegen diese gute Seite des Digitalen arbeiten, wie es heute üblich ist, Extreme aller Lager gemeinsam an. Die Digitaleuphoriker ebenso wie die Digitalpaniker.

Arthur C. Clarke, der britische Science-Fiction-Autor (2001: A Space Odyssey) hat einmal gesagt, dass eine »hinreichend fortgeschrittene Technologie nicht von Magie« zu unterscheiden wäre.

Fauler Zauber

Magie – das kann man auch als faulen Zauber verstehen. Der MIT-Professor und Computerpionier Joseph Weizenbaum, das kritische Gewissen der Informatik, hat das 1972 vorhergesehen: »Der meiste Schaden, den der Computer potenziell zur Folge haben könnte, hängt weniger davon ab, was der Computer tatsächlich kann oder nicht kann, als vielmehr von den Eigenschaften, die das Publikum dem Computer zuschreibt.«

Was wissen die Eliten in Medien und Politik schon von den Grundlagen der Informatik? Können die Über- und Untertreibungen richtig einschätzen? Es sieht nicht so aus.

Dafür spricht auch noch der neue digitale Determinismus, der in einer Erhöhung und groben Überschätzung technischer Fertigkeiten besteht. Apple Education twitterte im Frühjahr 2018 etwa Folgendes: »Wenn Sie Programmieren unterrichten, bringen Sie Ihren Schülern gleichzeitig kritisches Denken und das Lösen von Problemen bei.« Dabei wird stures Auswendiglernen, das Routinelernen, mit kreativem, individuellem Denken verwechselt, ein Klassiker, der aber im Zeitalter der Wissensgesellschaft gefährlich ist, die nicht nach der Logik der Industriegesellschaft läuft. Coden hilft beim kritischen Zweifeln und Finden origineller Lösungen ungefähr so gut wie Rosenkranzbeten gegen Rückenbeschwerden.

Fehler aus Gewohnheit

Doch bei Twitter, wo die »Follower« in der Regel bei jedem Lüftchen aus der Hose springen, blieb derlei weitgehend unwidersprochen. Den ganzen Gratismutigen kann man problemlos die dümmsten mechanistischen Sprüche unterjubeln, und sie halten sie für ganz normal. Dass die intellektuellen Eliten nicht nur nicht wissen, wo der Fehler liegt, sondern ihn größtenteils sogar aus Gewohnheit begehen, ist unser Problem.

Wo der Glaube an Mechanismus groß wird, wird sogar Intelligenz selbst zur Frage der Technik, zu einem lösbaren mechanischen Problem, wie die kritiklose Bejubelung des Begriffs der künstlichen Intelligenz beweist. Die Forschung kann zwar die Frage, was Intelligenz ist, nicht annähernd beantworten, aber IT-Unternehmen bauen sie bereits in künstlicher Version in ihre Mobiltelefone ein. Wer die Spracheingabe seines Smartphones für intelligent hält, beweist eigentlich nur, dass er selbst es nicht ist.

Aber digitale Kompetenz ist bloß Konsumkompetenz. Es fehlt an Zusammenhangswissen, dass sich nur durch kritisches Denken, also selbstständiges Erfahren, schulen lässt.

Vorsicht vor dem Aluhut

Ein Beispiel: Vor Kurzem veröffentlichte die Kommunikationswissenschaftlerin und Wirtschaftswoche-Herausgeberin Miriam Meckel ihr neues Buch mit dem vielsprechenden Titel Mein Kopf gehört mir, in dem sie vor der »schönen neuen Welt des Brainhackings« warnt. Das Werk ist ein Panoptikum an bekannten Dystopien, ein bunter Strauß aus Zukunftsängsten. Daraufhin fragte das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel: »Wie kommen Schwarzmaler der digitalen Zukunft wie die Autorin Miriam Meckel auf derart absurde Visionen?«

Die Antwort darauf ist einfach: Aus dem Spiegel natürlich, der seit den 1950er-Jahren regelmäßig Geschichten vom Untergang der Menschheit und dem Aussterben aller Arbeit durch Roboter, Computer und vermeintliche künstliche Intelligenz publiziert. Mal sind es »e-Bots« (1955), die die Macht übernehmen, während in den Siebzigern Roboter Arbeiter im Blaumann am Kragen packen. »Fortschritt macht arbeitslos«, weiß der Hamburger Magazineur. Das hat sich als konsequente Fehlprognose herausgestellt – was die deutschen Qualitätsmedien nicht von der Panikmache abhält, bis heute.

Was sagen eigentlich die sogenannten Digital Natives dazu, die sich selbst für eine digitale Elite halten? Nichts, meistens, was daran liegt, dass niemand durch die Gnade des richtigen Geburtsjahrgangs schon zum Schlaumeier wird. Einmal pro Jahr ein neues iPhone ist nicht genug. Zukunftskompetenz ist mehr als mitmachen, sich bei Twitter über irgendwas empören und bei WhatsApp cool sein wollen. Mitlaufen reicht nicht. Das führt immer unter den Aluhut. Dort ist es auch dunkel, wenn die Mehrheit ihn sich über den Kopf zieht.

WOLF LOTTER ist Gründungsmitglied von brand eins und schreibt dort die Einleitungen, die Essays zu den Themenschwerpunkten. Sein Buch Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken ist vor Kurzem in der Edition Körber erschienen und beschäftigt sich mit dem Neuen und den Mythen darum – etwa jenen der Digitalisierung.

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