„Es geht mehr ums Prestige“

„Eine Schule für alle“ – überfällige Reform oder Überforderung? Darüber streiten die Sprecherin der Hamburger Gymnasialschulleiter, Dagmar Wagener, und der grüne Schulpolitiker Edgar Mebus

DAGMAR WAGENER leitet das Hamburger Heinrich-Heine-Gymnasium und ist Vorsitzende des Verbandes Hamburger Gymnasialschulleiter. EDGAR MEBUS war Schulleiter des Kaifu-Gymnasiums in Hamburg und ist für die Hamburger Grün-Alternative Liste Deputierter in der Bildungsbehörde.

MODERATION KAIJA KUTTER

taz: Herr Mebus, was kommt auf die Gymnasien zu, wenn Ihre Volksinitiative „Eine Schule für alle“ Erfolg hat?

Edgar Mebus: Sie werden alle Kinder behalten, die sie in Klasse 5 bekommen. Auf altsprachliche Gymnasien werden sicher weiterhin vor allem leistungsstarke Kinder ganz bestimmter Eltern gehen. Also wenig Veränderung. Auf der anderen Seite haben wir Gymnasien, die schon heute 30, 40 Prozent Kinder ohne Gymnasialempfehlung bekommen. Die haben sich schon sehr verändert – häufig angeregt von der Arbeit der Gesamtschulen – und die müssen nur weitere Schritte gehen. Es gibt aber auch Gymnasien, deren Lehrkräfte der Vorstellung anhängen, dass der Schüler weggeschickt werden kann, wenn es nicht funktioniert. Die müssen sich umstellen.

Frau Wagener, was sagen Sie zur „Schule für alle“?

Dagmar Wagener: Wir haben doch den Vorschlag der Enquete-Kommission: das Zwei-Säulen-Modell. Dies geht davon aus, dass es etwa 30 Prozent Risikoschüler gibt, die mit der neuen Stadtteilschule eine bessere Förderung erhalten sollen. Die andere Säule ist das Gymnasium. Mit diesem Konzept können Gymnasien sehr gut umgehen. Etwas anderes ist die „Schule für alle“. Ich kann mir vorstellen, dass man eventuell über lange Zeit dahinkommt. Aber nicht jetzt. Denn das Gymnasium ist eine gewünschte Schulform.

Würde es denn funktionieren, dass Gymnasien alle Schüler aufnehmen und behalten?

Wagener: So genau weiß man das nicht. Es wäre ja kein konsensualer Schritt, sondern das Ergebnis eines Kampfes um das Fortbestehen. Das ist für eine derart große Veränderung keine gute Voraussetzung. Ein großer Teil der Gymnasiallehrer hat Vorbehalte. Das Thema ist doch, wie wir die Bildung für alle Kinder verbessern können und in welchen Schritten das geschieht.

Mebus: Stimmt. Und deshalb ist die Initiative richtig. Die frühe Verteilung der Schüler im dreigliedrigen System ist weder sozial gerecht noch leistungsgerecht.

Sind zwei Säulen keine Lösung?

Mebus: Es freut mich, dass Frau Wagener sich vorstellen kann, dass in einem längeren Prozess aus dem Zwei-Säulen-System die „Schule für alle“ wird. Das ist ja die Position der SPD. Nur: Kann das Zwei-Säulen-Modell funktionieren? Ich befürchte ein Fiasko, weil wir die jetzige Trennung verstärken. Das Gymnasium ist die beliebteste Schulform. Allein der Name hat eine Attraktivität für ganz viele Eltern. Ich erwarte, dass die Gymnasien nach Klasse 6 eine strikte Auslese betreiben und die andere Säule zu einer weniger angesehenen für die schwächeren zwei Drittel wird.

Wagener: Wenn Hamburg eine „Schule für alle“ einführt, isolieren wir uns bundesweit. Die Abschlüsse müssen vergleichbar bleiben und gegenseitig akzeptiert werden.

Mebus: Ein Argument für den Föderalismus war immer, dass er einen Wettbewerb um die besten Wege ermöglicht. Es gibt doch in ganz Deutschland nach PISA eine differenziertere Diskussion. Früher hieß es, nur die Struktur ist entscheidend. Dann hieß es, es kommt nur auf die Arbeitsweise der Schulen an. Heute ist klar: Beides ist wichtig für die Behebung der Missstände.

Wagener: Wir Gymnasien haben uns auch lange in der Illusion gewiegt, dass Homogenität wichtig ist. Aber auch wir haben uns weiterentwickelt, neue Formen des Unterrichts erprobt und damit gute Erfolge erzielt. Aber wenn wir jetzt die „Schule für alle“ einführen, bekommt Hamburg ein Privatschulwesen, das die sozialen Unterschiede in einer Art und Weise vertieft, wie wir es bisher noch nicht kennen. Hamburg ist ein Wirtschaftsstandort ersten Ranges. Ich kenne die Eltern, die aus Bayern oder Baden-Württemberg zuziehen. Sie würden ihre Kinder dort nicht hinschicken. Sie bleiben entweder im Umland wohnen oder schicken sie zu einer Privatschule.

Aber die Volksinitiative verspricht, auch die Spitzenleistung zu fördern.

Wagener: Das will ich nicht grundsätzlich ausschließen. Aber es gibt eine Klientel, der es mehr um Prestige und sozialen Status geht. Diese Klientel wird andere Wege finden.

Mebus: Die Befürchtungen sind ernst zu nehmen. Es hängt viel von der Qualität staatlicher Schulen ab. Aber dass nach Einführung der „Schule für alle“ plötzlich soziale Segregation auftritt, ist eine seltsame Besorgnis. Die jetzige ist viel schlimmer.

Die jetzt auch vom Kinderschutzbund unterstützte Volksinitiative „Eine Schule für alle“ sammelt Unterschriften für ein Gesetz, nach dem ab 2012 keine nach Schulform getrennten 5. Klassen mehr eingerichtet werden sollen. Bekommt sie bis zum 7. Januar 10.000 Unterschriften zusammen, folgt im Herbst die nächste Stufe des Volksbegehrens – 61.000 nötige Stimmen – und gegebenenfalls im Sommer 2009, parallel zur Europawahl, der Volksentscheid mit 242.000 nötigen Stimmen. Bisher sind rund 5.000 Unterschriften zusammengekommen. Weitere Infos können unter www.eineschule.de heruntergeladen werden. KAJ

Wagener: Da haben wir eine unterschiedliche Wahrnehmung. Es gehen in Hamburg heute schon Kinder sehr unterschiedlicher Herkunft aufs Gymnasium. Sind sie erst mal hier, können sie unabhängig von ihrer Herkunft mit guter Aussicht auf Erfolg hier bleiben. Das Problem liegt in der Grundschule. Am Ende der Grundschulzeit liegen die Kinder zum Beispiel in Rechtsschreibung und Mathematik teils zwei Lernjahre auseinander. Die Kinder müssen in der Vorschulzeit mit drei, vier Jahren so gefördert werden, dass sie anschließend mit Erfolg zur Schule gehen.

Mebus: Mängel im vorschulischen Bereich: Da stimme ich zu. Aber nicht in der Grundschule. Sie ist unsere einzige Schule für alle, und sie ist erfolgreich.

Dennoch hängt es vom Elternhaus ab, ob ein Kind auf Gymnasium kommt. Eltern bekommen die Gymnasialempfehlung für ihr Kind mit den Worten: „Wenn Sie das unterstützen, ist das kein Problem.“

Wagener: Eltern müssen ihr Kind schulformunabhängig unterstützen.

Mebus: Ich weiß aus meiner Erfahrung als Schulleiter, dass wir uns oft vertun, wenn wir die Kinder schon mit zehn Jahren einschätzen. Deutschland war mal eine Klassengesellschaft, und deren Spiegelbild ist das dreigeteilte Schulwesen. In einer demokratischen Gesellschaft müssen wir allen Kindern gleiche Chancen geben und sie länger gemeinsam lernen lassen, wie die Dänen es seit 30 Jahren tun.

Wagener: Mein Eindruck ist, hier wird im Moment richtig etwas übers Knie gebrochen. Mit dem Zwei-Säulen-Modell kämen wir voran und könnten die Vielgliedrigkeit auflösen. Wenn wir jetzt zugleich über die „Schule für alle“ reden, wird es zum unglaublichen Kraftakt, die Verbesserung des Schulwesens konstruktiv voranzubringen.