Als Jan beschloss, seine Mutter zu töten

STERBEHILFE Reitunfall. Wachkoma. Jans Mutter war austherapiert. Was kann ein Angehöriger tun, wenn der Tod einfach nicht kommen mag? Jan traf eine Entscheidung. Eine, die ihn ins Gefängnis brachte

■ Aktive Sterbehilfe: Ist in Deutschland verboten. Dabei wird ein Kranker auf eigenen Wunsch durch die aktive Handlung einer anderen Person getötet, etwa indem der Arzt eine Giftspritze setzt. Dies wird laut Strafgesetzbuch als „Tötung auf Verlangen“ mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. So soll das Tötungstabu aufrechterhalten werden.

■ Passive Sterbehilfe: Ist in Deutschland erlaubt. Der Arzt stellt auf Wunsch des Kranken die künstliche Ernährung oder sonstige Behandlung ein. Er darf den Kranken ohnehin nicht gegen seinen Willen behandeln. Ein Abschalten der Apparate ist auch möglich, wenn der Patient nicht mehr bei Bewusstsein ist, aber eine Patientenverfügung von ihm vorliegt. Der Bundestag hat 2009 die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen geregelt.

■ Indirekte Sterbehilfe: Die Gabe von schmerzlindernden Medikamenten ist ebenfalls straffrei – selbst wenn sie als ungewollte Nebenfolge das Leben verkürzen.

■ Beihilfe zur Selbsttötung: Die Selbsttötung in Deutschland ist straffrei – ebenso die Beihilfe dazu, zum Beispiel wenn jemand einem Selbstmörder einen Strick besorgt. Der Bundestag will in diesem Herbst entscheiden, ob die organisierte Hilfe zur Selbsttötung strafbar werden soll. Einen ausführlichen Text zur aktuellen Debatte finden Sie online unter taz.de/sterbehilfe.

■ Der Konflikt der Ärzte: Sie dürfen in Deutschland Hilfe zur Selbsttötung leisten. In vielen Bundesländern aber droht ihnen der Entzug der Zulassung. Im Bundestag wird diskutiert, ob der ärztlich assistierte Suizid künftig ausdrücklich erlaubt werden sollte. (chr)

VON MARTINA ROSENBERG
(TEXT) UND STEPHANIE F. SCHOLZ (ILLUSTRATION)

Jan lehnt an einer Säule, als ihm plötzlich jemand auf die Schulter tippt. Nele steht vor ihm. Oh Mann, ist die hübsch geworden, denkt er. Sie umarmen sich kurz. „Hey, Jan!“, sagt Nele. Er hat immer noch Gefühle für sie. Doch er weiß: Es ist sinnlos. Was soll er mit einem Mädchen, wenn er bald im Gefängnis sitzt? Er verabschiedet sich hastig, nimmt sein Rad und fährt davon.

Kurze Zeit später, an einem Tag im Januar 2012, beschließt Jan: Heute wird er seine Mutter töten. Neun Monate lang hat er sich darauf vorbereitet, auf den richtigen Moment gewartet. Nun will er sie erlösen. Er steht um halb acht auf, duscht und fährt dann mit dem Bus zum Bahnhof. Ihm fällt auf, wie ruhig er an diesem Tag ist.

Am Schalter fragt er nach der schnellsten Verbindung, die ihn zu ihrem Pflegeheim bringt. Er löst ein Ticket und geht zum Bahngleis. Jetzt darf nichts mehr schiefgehen.

In den vergangenen Monaten hatte Jan sich nie die Frage gestellt, ob er es tun solle, sondern nur: wie. Auf keinen Fall sollte seine Mutter leiden, so viel stand für ihn fest. Gelitten hatte sie mehr als genug.

Sieben lange Jahre lag sie nach einem schweren Reitunfall mit irreparablen Hirnverletzungen in einem Pflegeheim. Phase F der Wachkoma-Therapie. Das bedeutet, aus medizinischer Sicht ist der Fall so gut wie hoffnungslos. Diagnose: austherapiert. Eine Patientenverfügung, in der sie hätte erklären können, wie ihre Angehörigen in einem solchen Fall verfahren sollen, hatte sie nicht aufgesetzt. Wie lange also sollte sie noch so reglos daliegen?

In Deutschland ist Sterbehilfe verboten. Zumindest die aktive, bei der dem Patienten ein tödlich wirkendes Medikament verabreicht wird. Diese Regelung gilt fast weltweit, nur in den Benelux-Ländern ist aktive Sterbehilfe erlaubt.

Der begleitete Suizid ebenso wie die passive Sterbehilfe sind in Deutschland bisher straffrei. Im ersten Fall wird ein tödlich wirkendes Medikament verabreicht, das der Patient selbst einnimmt. Im zweiten werden lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt. Auch die indirekte Sterbehilfe ist legal, bei der einem Schwerkranken Medikamente verabreicht werden, die unter Umständen das Leben verkürzen, aber stark schmerzlindernd sind. Nun plant Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe von der CDU ein neues Gesetz, das kommerzielle Sterbehilfe, aber auch jede andere organisierte Form von Sterbehilfe unter Strafe stellen soll.

Kaum etwas wird in Deutschland so emotional diskutiert wie dieses Thema. Wann soll ein Mensch sterben, wenn es kaum mehr Hoffnung für ihn gibt? Was, wenn der Tod einfach nicht kommen mag, wenn die Palliativmedizin am Ende ist und der Mensch sich nichts sehnlicher wünscht als den Tod, weil er unermesslich leiden muss?

Jan ist heute 30 Jahre alt. Weil er eine Straftat begangen hat, soll er in dieser Geschichte keinen Nachnamen tragen. Auch sein Wohnort wird nicht genannt.

Zuerst der Schock: keine Patientenverfügung

Etliche Male hat Jan versucht, seiner Mutter durch Worte oder Gesten eine Reaktion zu entlocken. Ohne Erfolg. Einzig beim Absaugen des Schleims durch die Öffnung der Trachealkanüle reagierte sie auf ihre Umwelt. Das war für Jan kaum auszuhalten. Immer, wenn das Rasseln in ihrem Atem stärker wurde, musste der Schleim mit einer Kanüle abgesaugt werden. Der leidvollen Prozedur folgte ein furchtbarer Hustenreiz, und der Oberkörper seiner Mutter bäumte sich auf. Ein schrecklicher Anblick, der Jan stets aufs Neue bestätigte, wie sehr seine Mutter litt. Abgesehen von den vielen Operationen und Behandlungen, die sie in den vergangenen Jahren hatte über sich ergehen lassen müssen.

Seine Mutter. Im Wachkoma. Jan wusste erst gar nicht, was das ist. Und lernte: Es ist ein Zustand, bei dem das Großhirn stark geschädigt ist. Das Stammhirn, das für die essenziellen Lebensfunktionen zuständig ist und Herzfrequenz, Blutdruck und Atmung steuert, ist dagegen in der Regel funktionsfähig. Ein normaler Schlaf-wach-Rhythmus ist nicht mehr feststellbar. Der Patient ist nicht mehr in der Lage, seine Umwelt wahrzunehmen und mit der Außenwelt zu kommunizieren. Er reagiert nicht mehr bewusst auf äußere Reize. Je nach Art und Grad der Großhirnschädigung kann es unbewusste Reaktionen geben – beispielsweise ein Augenzwinkern, wenn jemand in die Hände klatscht.

Jans Mutter war eine lebenslustige Frau. Sie stand, wie Freunde von ihr später berichteten, mit beiden Beinen im Leben. Nun lag sie Jahr für Jahr, umgeben von Schläuchen und Apparaturen, nicht mehr erkennbar als die Frau, die sie einst war, einsam in einem Pflegeheim. Die Besuche der Freunde von einst an ihrem Krankenbett wurden im Laufe der Jahre weniger.

Wie lang können Freunde und Angehörige so einen Zustand ertragen? Ohne selbst einen psychischen Schaden zu erleiden? Eine Freundin der Mutter drückte es so aus: „Ich bin viele Monate dorthin gefahren und habe sie besucht. Aber nachts hat mich ihr Anblick in meine Träume verfolgt. Was da lag, war nicht mehr die Frau von damals. Ich konnte damit nicht umgehen.“ Ist es verwerflich, wenn die Menschen sich abwenden?

Die Selbsthilfeorganisation „Schädel-Hirnpatienten in Not“ schätzt die Zahl der langfristigen Wachkoma-Patienten in Deutschland auf mindestens 13.000. Fragt man in Deutschland Menschen auf der Straße nach ihrer persönlichen Meinung zu einem Leben im Wachkoma, geben die meisten von ihnen an, in so einem Zustand nicht leben zu wollen.

Zum Zeitpunkt des Unfalls war Jans Mutter 39 Jahre alt und hatte keine Patientenverfügung hinterlassen, in der eindeutig geregelt wurde, was in einem solchen Fall zu tun sei. Laut einer Forsa-Umfrage vom Sommer 2014 im Auftrag des Verbands VorsorgeAnwalt e. V. besaßen von 1.000 Befragten zwischen 30 und 44 Jahren nur 18 Prozent eine Patientenverfügung. Bei den über 60-Jährigen war es immerhin schon die Hälfte.

Was aber tun, wenn keine Patientenverfügung vorliegt? Wer entscheidet dann über Leben und Tod?

Bei Jans Mutter wäre eine Einstellung der künstlichen Ernährung die Lösung gewesen. Da aber von ihr keine Patientenverfügung vorlag, musste der Wunsch der Patientin anders ermittelt werden. Nur: von wem? Jans Vater starb, als Jan fünf Jahre alt war. Seine Mutter heiratete wieder. Jans Stiefvater kümmerte sich nach dem Unfall um seine Frau und zahlte die Behandlungskosten der Wachkoma-Therapie. Nach einigen Jahren war er ausgebrannt und zog sich zurück. Auch Jan war zu labil, um für seine Mutter entscheiden zu können. So wurde eine gesetzliche Vertreterin eingesetzt, die vom Betreuungsgericht festgelegt wurde. Diese jedoch hoffte, dass sich der Gesundheitszustand der Patientin verbessert.

So wuchs in Jan mehr und mehr die Überzeugung, einen anderen Weg gehen zu müssen. Er musste es selbst tun. Dann eben illegal.

Berlin, im vergangenen Dezember, eine Pressekonferenz. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, spricht. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung aus dem Jahr 2011 hätten immer noch volle Gültigkeit. Beihilfe zum Suizid sei keine ärztliche Aufgabe. „Wir brauchen den ärztlich assistierten Suizid nicht“, sagt er. Auf die Frage, wer dann helfen könne, antwortet er: „Von mir aus soll es der Klempner oder wer auch immer machen, aber von den Ärzten gibt es keine klinisch saubere Suizidassistenz.“

Dann der Entschluss: Er muss es selbst tun

Genau das ist das Problem: Wenn der begleitete Suizid nicht von Ärzten vollzogen wird, bleiben nur noch Angehörige oder Freunde. Die aber kennen sich in der Regel nicht gut genug aus. Sie können keine geeigneten Medikamente beschaffen, wissen zu wenig über die richtige Dosierung.

Im Fall von Jans Mutter kam assistierter Suizid nicht infrage, sie konnte nicht mal die Hand heben, geschweige denn schlucken. Jan hatte im Internet recherchiert, gab es nicht einen anderen Weg? Alle Methoden, die er durchspielte, schienen ihm zu riskant. Er musste es selbst tun. Für seine Mutter. Der Gedanke gefiel ihm nicht, doch mit jedem Tag wurde klarer, dass ihm nur diese Möglichkeit blieb.

Er lässt die Zeit verstreichen. Der Sommer geht fast nahtlos in den Winter über – neun Monate sind seit seinem letzten Besuch bei der Mutter vergangen. Er hatte die Zeit gebraucht, er hatte sich sammeln müssen. Sein Entschluss steht nun fest. Nichts soll mehr dazwischenkommen. Die Weihnachtsfeiertage verlebt Jan einsam. Alles trist und öde. Zehn bis zwölf Stunden am Tag hat er in der vergangenen Woche in einer Fabrik als 1-Euro-Jobber gearbeitet, nun will er nur noch schlafen. Dennoch ist er mit seinen Gedanken bei seiner Mutter. Für sie ist es das achte Weihnachten im Wachkoma. Vermutlich ist sie genauso allein wie er. Silvester feiert er bei einem Nachbarn. In dieser Nacht sitzt er lang draußen und nimmt die vielen Lichter am Himmel ganz bewusst wahr. Es wird vorerst das letzte Silvester in Freiheit für ihn sein.

Zwei Tage nach Neujahr ist Jan plötzlich völlig klar im Kopf. Heute, da ist er sich sicher, wird er zu ihr gehen. Heute wird er seine Mutter erlösen.

Jan fühlt sich wie in Trance. Jede Handbewegung, jeden Schritt hat er hundertmal durchdacht. Nach einer gefühlt endlosen Fahrt erreicht er endlich sein Ziel. Als er das Pflegeheim betritt, wird er dann doch nervös. Wird man ihn aufhalten? Hat sich etwas verändert? Mit dem Aufzug fährt er in das Stockwerk, in dem seine Mutter liegt.

Als er am Schwesternzimmer vorbeigeht, fühlt er sein Herz klopfen. Keiner da. Glück gehabt. Ein paar Schritte weiter ist der Aufenthaltsraum. Auch hier ist niemand, der ihn aufhält. Ungehindert geht er in das Zimmer seiner Mutter. Das Zimmer ist immer noch so, wie Jan es das letzte Mal gesehen hat – kahl, nirgends gibt es persönliche Dinge seiner Mutter.

„Hallo, Mama“, sagt Jan und lächelt sie an. Er nimmt ihre Hand und drückt einen Kuss darauf. Seine Mutter liegt in der gleichen Haltung da wie all die Jahre zuvor, die Gliedmaßen verkrampft. Jan nimmt sich einen Stuhl, den er dicht an das Bett schiebt. Mit einem Buch, das er mitgebracht hat, setzt er sich und beginnt eine Geschichte daraus vorzulesen. Es ist ein Buch, das er und seine Mutter gemeinsam gelesen haben, als Jan noch kleiner war, und er hat immer so viele Fehler beim Lesen gemacht. Beide haben sie damals unendlich viel gelacht. Eine schöne Erinnerung – an eine Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war. Da hat er sich noch geborgen gefühlt. Die Welt war zwar nicht immer heil, aber sie beide hatten sich.

Plötzlich geht die Tür auf, und ein Pfleger steckt den Kopf herein. „Oh, Verzeihung!“, sagt er. „Ich wollte eigentlich zum Waschen kommen. Das kann ich aber auch später machen.“ Jetzt weiß Jan, die Zeit wird knapp. Er liest noch den Absatz zu Ende. Dann legt er das Buch zur Seite. Reglos liegt seine Mutter da.

Ein Sachverständiger sagt später vor Gericht aus, dass Jans Mutter keine höheren Gehirnfunktionen mehr gehabt hatte und das Gehirn dauerhaft schwer geschädigt gewesen war. „Das erste Jahr ist bei solch einem Krankheitsbild entscheidend“, erklärt er. „Was sich in diesem Zeitraum nicht verbessert, wird sich auch zukünftig nicht mehr ändern. Da der Zustand der Patientin über sieben Jahre hinweg unverändert blieb, wäre es auch hier sehr unwahrscheinlich gewesen, dass sich je etwas gebessert hätte.“ Auch wenn die Mutter wider Erwarten aufgewacht wäre, „wäre der Zustand für sie grausam gewesen“. Sie hätte weder Arme noch Beine bewegen können, noch wäre sie in der Lage gewesen, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren.

Wie schwer es ist, den Abbruch der Behandlung bei fehlender Patientenverfügung zu erreichen, zeigt der Fall einer anderen Frau, die seit fünf Jahren im Wachkoma liegt. Ehemann und Tochter versuchten, über das Betreuungsgericht einen Behandlungsabbruch zu erwirken, und scheiterten im Jahr 2013 beim Landgericht Chemnitz. Sie wollen die künstliche Ernährung einstellen lassen und sind der Auffassung, den Willen der Frau umzusetzen. Der Fall ging bis zum Bundesgerichtshof, der im vergangenen Oktober ein überraschendes Urteil fällte. Er wies die Richter an, den mutmaßlichen Sterbewunsch der Frau nun neu zu prüfen.

Prozent der Ärzte in Deutschland wurden schon um Hilfe beim Suizid gebeten, zum Teil von Patienten, zum Teil auch von deren Angehörigen Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach

Prozent der Ärzte lehnen aktive Sterbehilfe, etwa durch Injektion eines tödlichen Medikaments, ab. In derselben Umfrage gaben 61 Prozent an, auch Beihilfe zum Suizid käme für sie auf keinen Fall infrage Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach

Patienten mehr pro Jahr fallen in Deutschland ins Wachkoma. Vor allem, weil immer öfter mit Defibrillatoren wiederbelebt wird Quelle: Selbsthilfeorganisation „Schädel-Hirnpatienten in Not“

Jahre maximal liegen Menschen meist im Wachkoma. Nach durchschnittlich drei bis sechs Monaten wacht die Mehrheit aber auf – oder stirbt Quelle: Selbsthilfeorganisation „Schädel-Hirnpatienten in Not“

Mitglieder haben insgesamt die sieben Sterbehilfe-Vereine in der Schweiz. Der größte: „Exit“ Quelle: Exit

Prozent der Exit-Mitglieder entscheiden sich letzten Endes gegen die Sterbehilfe. Deshalb versteht sich der Verein als suizidpräventiv Quelle: Exit

Manche Angehörige streiten sich vor Gericht mit Ärzten, Richtern und Anwälten, um den würdigen Tod für einen geliebten Menschen durchzusetzen. In einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen angeben, in einem solchen Zustand nicht mehr leben zu wollen, wird von den Betroffenen trotzdem erwartet, dass sie es ertragen. Dabei befürworteten mehr als 75 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage zum Thema Sterbebegleitung durch Ärzte in Deutschland die Möglichkeit der ärztlichen Freitodhilfe.

Wenn Sterbehilfe in Deutschland in Zukunft erschwert wird: Werden sich dann die Gerichtsprozesse häufen, in denen Töchter oder Söhne, Ehemänner oder Ehefrauen zu Straftätern erklärt werden?

Schon heute sind immer wieder Meldungen über entsprechende Urteile zu lesen. Da gab es im November 2014 den Prozess in Augsburg, in dem ein Vater vor Gericht stand, der sich und seinen Sohn mit Autoabgasen töten wollte. Sie wurden frühzeitig gefunden. Der Sohn starb trotzdem, der Vater überlebte – und musste sich vor den Richtern verantworten. Töten auf Verlangen lautete die Anklage. Das Gericht hätte die Möglichkeit gehabt, den Vater zwar schuldig zu sprechen, ihn aber nicht zu bestrafen. Der Sohn, der seit der Geburt an einer zunehmend schlimmer werdenden spastischen Lähmung litt, bat den Vater mehrmals, ihn zu töten. Weil er das Leiden seines Sohnes nicht mehr ertragen konnte, gab er seinem Wunsch nach. Das Gericht verurteilte ihn zu neun Monaten auf Bewährung.

In einem anderen Fall in Ulm leistete der Sohn, selbst Mediziner, seinem sterbenden Vater Sterbehilfe und musste sich vor Gericht verantworten. Die Ulmer Staatsanwaltschaft erhob 2010 Anklage gegen Sohn und Ehefrau des Verstorbenen wegen „gemeinschaftlicher Tötung auf Verlangen“. Dabei wurde angeblich die Morphindosis vom Sohn erhöht, um dem Vater einen qualvollen Erstickungstod einige Stunden später zu ersparen. Anfang Mai 2014 wurde der Prozess gegen eine Zahlung von 15.000 Euro eingestellt. Der Spiegel schrieb von einem „Verfahren, das besser hätte nie eröffnet werden sollen“.

Am Ende der Abschied: Er greift zum Handtuch

Wollen wir wirklich Menschen bestrafen, die ihren Liebsten das leidvolle Sterben erleichtern wollen? Kann die Politik, können Montgomery und seine Ärztekollegen ignorieren, dass die Menschen in Deutschland selbst über ihren Tod bestimmen wollen, dass sie sich ein würdevolles und sanftes Sterben wünschen?

Oder grenzt es schon an staatlich organisierte Euthanasie? Die Bedenken, dass die Zulassung von Sterbehilfe, insbesondere der aktiven Sterbehilfe, zu einer Zwangseuthanasie führe, wie in der Zeit des Nationalsozialismus, ist absurd und abwegig. Seit April 2002 dürfen Ärzte in den Niederlanden einem Schwerkranken eine tödliche Spritze verabreichen, wenn der Patient im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist und es wünscht. Ein Kontrollausschuss aus einem Arzt, einem Juristen und Ethikexperten muss der Sterbehilfe zustimmen. Warum sollte das in Deutschland nicht möglich sein?

Wissenschaftler der Universitätskliniken in Rotterdam und Amsterdam haben im britischen Medizinjournal The Lancet berichtet, dass durch die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe nicht mehr Menschen auf diese Weise gestorben sind. Weniger als drei Prozent aller Menschen, die im Jahr 2010 in den Niederlanden starben, kamen demzufolge durch aktive Sterbehilfe oder ärztliche Hilfe bei der Selbsttötung ums Leben. Das entspricht dem Verhältnis vor der Legalisierung im Jahr 2002.

Jeder sollte das Recht haben, den Zeitpunkt seines Todes selbst zu bestimmen. Und haben wir als Gesellschaft nicht die Pflicht, diese Menschen dabei in Würde zu begleiten und ihre Wünsche zu akzeptieren?

„Vielleicht sehen wir uns da oben wieder“, sagt Jan. „Ich hab dich unendlich doll lieb.“

Er greift ein Handtuch, das am Kopfende des Bettes liegt.

Dann geht er für achtzehn Monate ins Gefängnis.

Martina Rosenberg, 51, ist Autorin. Dieser Text basiert auf ihrem neuen Buch „Anklage: Sterbehilfe“, das kommenden Montag im Blanvalet Verlag erscheint. In ihrem ersten Buch „Mutter, wann stirbst du endlich?“ schilderte sie die belastende Pflege in ihrer eigenen Familie Mitarbeit: Emilia Smechowski