50 Jahre Pinkelpause

Der Sündenfall geschah heute vor 50 Jahren: Im damals noch getrennten Vorabendprogramm der ARD lief – Werbung. Zwar nicht überall, aber ausgerechnet in Bayern. Beppo Brem und Lisl Karstadt warben – na wofür wohl? – für Persil. Dann ging es Spot auf Spot, viele andere ARD-Anstalten zogen nach, im „Werberahmenprogramm“. 20 Minuten Werbung am frühen Abend. Mehr ist den Öffentlich-Rechtlichen auch heute nicht erlaubt. Doch schon damals liefen vor allem die Verleger gegen den ungebetenen Konkurrenten um die Werbeeinnahmen Sturm. Angeführt von Springer versuchten sie, im Bundestag ein Werbeverbot im Fernsehen durchzusetzen. Geklappt hat das bekanntlich nicht, und so ärgern sie sich weiter wie das HB-Männchen: Gestern kritisierte Verlegerpräsident Hubert Burda wieder mal die Werbegeschäfte von ARD und ZDF. Persil bleibt eben Persil – und Verleger eben Verleger.

Nutella-Träume

Man sollte Mitleid haben mit ihm, dem kleinen Andi. Wie er so dasitzt, vor seinem Nutellabrot, neben ihm seine Freunde Kevin, Arne und Benni. Süß, die Jungs, in weißen Trikots. Bevor Andi in sein braungedeckeltes Frühstücksbrot beißt, beginnt er zu träumen: Andi möchte ein Countrysänger sein. Aber weil er noch so jung ist und bei einem schwäbischen Spätzleverein kickt, hat sein Traum den Charme von Volksmusiksendungen. Rustikale Optik, ein Text wie gemacht fürs Klo – „Arizona! Arizonaaaaaa!“ – und der Andi selbst: debil eingekleidet in Faschingscowboymontur. Dann bricht auch noch seine Stimme ein, während er breitbeinig durch ein nachgebautes Westerndorf schlendert, und man fragt sich: Das alles kann die Vorfreude auf Nutella bewirken?

Das Interessante an dem Spot mit den Fußballnationalspielern Hinkel (Andi), Kuranyi (Kevin), Friedrich (Arne) und Lauth (Benni) ist übrigens, dass er vor der Weltmeisterschaft gedreht wurde. Bei der WM selbst war dann nur Arne Friedrich mit dabei. Wahrscheinlich hat man die anderen drei wohl wegen ihrer abgefahrenen Nutella-Träume suspendiert. DOS

Wauzi-Retterin

„Wir sind die Wauzi-Wauzis, wir haben keine Mama, wir haben keinen Papa, und keiner hat uns lieb“, weinten die zerknautschten Plüschhunde vor knapp 20 Jahren hinter den eisernen Gitterstäben eines Tierheims – und ich hatte sofort einen Kloß im Hals. Kleine sprechende Hunde, die um Liebe betteln und eine Mama brauchen – welches kleine Mädchen würde nicht darauf anspringen? Natürlich wollte ich alle Hunde retten, aber zu Weihnachten gab es leider nur zwei kleine Stofftierwelpen. Zwei! Was war mit den anderen inhaftierten, die im Tierheim dahinsiechten? Zu Ostern gab’s die nächsten, am Geburtstag hatte ich zumindest eine Familie gerettet. BB

Dallmayr-Bürger

Eigentlich ist der Werbespot ein per se antikonservatives Medium. Ausgestellt wird das immer Neue. Oder, was letztlich weitaus häufiger der Fall ist, vermeintlich neue Seiten des ewig Alten. Dass gerade das ewig Alte diese neue Seite sein könnte, hatte die Fernsehwerbung in den Achtzigerjahren begriffen. Doppelt genährt vom Neokonservatismus der Ära Kohl und den Nachhaltigkeitsdiskursen der Ära Wackersdorf. Beides ja Retrotrends auf ihre Weise.

Auf einmal gab es sie wieder, die guten Dinge. Werthers Echte, die schon der Opa lutschte, der sie nun seinem Enkel gönnt. Storck Riesen, von denen der erste – wie damals – im Tante-Emma-Laden sofort vernascht wird. Das Dallmayr-Kaffeehaus, an dessen Schaufensterfront sich Generationen von Bürgermenschen die Nasen platt drücken.

Im Jahrzehnt des Historikerstreits zog die Historie in die Konsumlandschaft und mit ihr in den Werbeclip ein. Dass früher hingegen nicht alles besser war, auch das weiß die Werbung zu erzählen. „Tja, Fielmann gab’s damals halt noch nicht“, sagt der Opa den Enkeln beim Blick auf die Hornbrillen von damals. Dieselben Hornbrillen übrigens, von der der urbane Kreativbartträger in einer anderen Brillenwerbung schwärmt. CLEM

o2-Kaiser

Wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, einen Privatsender einzuschalten, weil „Scarface“ gezeigt wird oder „American Pie“, passe ich ganz genau auf: In den Werbepausen drehe ich sofort den Ton ab, bevor durch das normale Gehör kaum wahrnehmbare Töne einen Konsumzwang auslösen. Und bevor die Heile-Welt-Bilder und die mit einer dicken Schicht Sahne überzogene Werbestimme bleibende Schäden hinterlassen können. So wie den epileptischen Anfall nach dem Werbefilmchen für ein Generationen vereinendes Fruchtbonbon: In dem Spot bewegen sich hasenzähnig-bebrillte Kinder und agile Greise mit silbrigem Kunsthaar in Zeitlupe zu einem Lied, geträllert von einer sonoren Männerstimme. Erst einmal habe ich auf die Werbung gehört. Mich für ein – und damit gegen ein anderes – Produkt entschieden. Franz Beckenbauer, reichster Bayer des Landes, hielt vor der Jahrtausendwende sein Konterfei für den Mobilfunkanbieter mit der 01 77 hin. Prompt unterschrieb ich bei o2. Der Kaiser aber ist mir hinterhergewechselt und hat sogar Veronica Ferres mitgenommen! So was passiert mir nicht noch mal. Werbepause? Ton aus! KIR

Stollwerck-TV

„Mensch, Kinder“, sagt die dicke Nachbarin, „das ist doch …“ – „Ja“, jubeln die Gastgeber im Chor. „Stollwerck Schokolade!“ Und dann setzen sich alle vor den Fernseher und stopfen sich die verdächtig klebrig aussehenden Köstlichkeiten in den Mund – während im Fernsehen ein Werbespot zu Schokolinsen läuft. Ein anderer Werbefilm, dieselben spießigen Wirtschaftswunderjahre: „Wenn wir Mutti eine Freude machen …“, beginnt das brave Blondschöpfchen. „ … dann schenkt sie uns Stollwerck-Schokolade!“, vollendet jubelnd das Schwesterchen. Dann legen sich beide Kinder vergnügt in den Fernsehsesseln zurück, knabbern ein paar Nappos und betrachten eine Werbesendung über Schokobananen. Die Werbestrategie der mittlerweile historischen Firma Stollwerck ist ein wunderbares Beispiel für Werbefernsehen in den ersten Fernsehjahren. Egal welches der Produkte man bewarb – und wie viel dialogisch gesprochene Sätze man dazu bemühte – im Grunde ging es um das Fernsehen selbst. Indem man der glücklichen Werbefernsehfamilie einen Fernseher hinstellte, zeigte man, dass es sich hier um eine aufstrebende Mittelschichtsfamilie handelte, Vorzeigeware der jungen Bundesrepublik. Tüchtige Hausfrauen, brave Kinder, heimkommende Ehemänner. Heute reden die Fernsehfamilien permanent miteinander, um zu zeigen, wie erstrebenswert ihre Lage für den Zuschauer ist und dass er das beworbene Produkt kaufen muss, um dazuzugehören. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wollte man im Fernsehen anscheinend nur andere fernsehende Leute sehen. Werbung als Spiegel: „Mensch, Kinder, die müsst ihr probieren!“ JUL

Faktu-Frieden

In meiner Studenten-WG vertrieben wir uns die Zeit gern mit Werbespot-Raten. Lutz wusste immer alles besser. In den ersten zwei Sekunden erkannte er sämtliche Waschmittel-, Auto- und Biermarken. Da Matthias und ich gegen den Blitzmerker sowieso keine Chance hatten, verlegten wir uns aufs Meckern. Wir äfften die Ratiopharm-Zwillinge nach, stöhnten auf, wenn die Ferrero-Frau mit dem affigen Hut auftauchte und unterstellten der Nimm-Zwei-Mutti abartige sexuelle Neigungen. Still wurde es immer dann, wenn das kleine, gezeichnete Männchen auf dem Bildschirm auftauchte. Lutz wusste, dass es um Hämorrhoidensalbe ging, hielt aber die Klappe. Sogar Matthias und ich verkniffen uns geschmacklose Analwitze. Denn dafür war die Werbung einfach zu niedlich. Das Männchen erwuchs aus einem einzigen Strich, es bog und wölbte seinen knubbeligen Körper in alle Richtungen. Es wimmerte und verzog sein Gesichtchen vor Schmerzen. Erst als ein Salbenstrang aus einer gezeichneten Tube herbeiflutschte, lächelte es. Und wir drei selbsternannten Werbespotsarkastiker lächelten mit: „Faktu. Und Hämorrhoiden geben Frieden“. Hinterher war es uns immer peinlich. Aber es war schön. Erst Jahre später erfuhr ich, dass das Zeichenmännchen „La Line“ in den 70ern von einem italienischen Designer erdacht wurde und in Designerkreisen äußerst beliebt war. Na dann. API

Levi’s-Lähmung

Wer gesteht, diesen Spot bis heute nur mit angehaltenem Atem anschauen zu können, den werden seine Freunde bald meiden. So voller Pathos steckt der einminütige Film. Aber das war er mir wert. Die Geschichte geht so: Ein junger Mann steht in einem leeren Raum, dreht sich um. Er rennt los, die Zimmerschluchten entlang. Klassische Musik braust auf. Eine Wand steht ihm im Lauf entgegen – er durchstößt sie und alle weiteren Mauern, als wären sie aus Seidenpapier. Eine junge Frau taucht auf, sie tut das Gleiche. Beide rennen immer weiter. Mit den Gesetzen der Schwerkraft haben es die beiden Läufer nicht so. Am furiosen Ende rennen sie vor nächtlichem Hintergrund zwei Baumstämme hoch – und fallen in Zeitlupe in den Nachthimmel. Streicherensemble und Bilder haben ihr Ziel erreicht: Das Großhirn des Betrachters ist vollkommen gelähmt. So müssen sich Wagnerianer fühlen. Der Spot lief vor drei, vier Jahren im deutschen Fernsehen und in längerer Version auch im Kino. Wofür er wirbt? Für Levi’s Jeans. Aber das ist doch völlig unwichtig! Meine Freunde habe ich übrigens seit langem nicht gesehen. MLO

Kaiser-Chronik

„Hamburg-Mannheimer, meeeehr vom Leeeben …“ – Herr Kaiser und dieser Versicherungssong sind einer der Dauerbrenner im Werbegeschäft. Und wenn man nun über diesen grinsenden Saubermann gründlich sinniert, geht einem auf: Holla, die Waldfee, der Kaiser ist ein echter Tausendsassa. Vom schnöden Versicherungsheini, der er bei Erstausstrahlung am 5. September 1972 im WDR noch war, bis zum hippen Tramper mit Insurance-Know-how in einem Spot 1998, in dem er in den USA von ein paar coolen Fun-Sportlern mitgenommen wird. Sogar eine blaue Phase hatte der Kaiser – wie Pablo Picasso. 1987 nämlich, in der „blauen“ Anzeigenserie mit „lebenslustigen Sportfotos“, wie es in der allzu charmant benannten Kaiser-Chronik auf der Homepage des Versicherungsunternehmens heißt. In den über 30 Jahren seiner Existenz hat der Darsteller dreimal gewechselt, aber sein Name steht immer noch für eins: Sicherheit. DAM

HB-Treue

„Halt mein Freund! Wer wird denn gleich in die Luft gehen?“ Ich nicht. Trotzdem griff ich zu HB. Denn das hieß: „Frohen Herzens genießen“. Da war ich 14 Jahre alt. Und das HB-Männchen die erste Zeichentrickkultfigur im deutschen Werbefernsehen – „Satisfaction“ (Stones) inklusive. Der Marke blieb ich treu, auch in der Studentenzeit, als alle anderen Schwarzer Krauser drehten oder die stinkenden Franzosenkippen rauchten. Über Jahre hinweg meisterte das HB-Männchen prekäre Alltagssituationen – so wie ich: HB qualmend. Overstolz war schließlich für Kranfahrer reserviert; und Rothändle für Pseudointellektuelle mit Tischfeuerzeugkultur (Degenhardt). Genießen mit frohem Herzen – damit war dann vor zehn Jahren leider Schluss. „Wenn Sie jetzt nicht aufhören, können wir schon einmal gemeinsam überlegen, wo wir die Bypässe setzen“, sagte mein Kardiologe. Danke, HB-Männchen. Danke, Werbefernsehen. KPK

Anarcho-Bodo

Das Schöne der Fernsehwerbung ist ihr Zug ins Anarchische. Das hat mich der Bodo-kratzt-das-Spot gelehrt. Zugegeben, ich mag auch den von Sigmund Freud übermittelten Witz, in dem sich ein Mann Majonäse in die Haare schmiert und, darauf angesprochen, seine Hände betrachtet. Und sich mit dem Hinweis entschuldigt, dass er die Majo für Spinat gehalten habe. Und vielleicht weiß niemand außer mir, dass Fernsehwerbung im Grunde die reinste Anarchie und der Bodo-kratzt-das-Spot ihr idealtypischer Vertreter ist. Ausgestrahlt wurde er – ja wann? Es muss Anfang der 80er-Jahre gewesen sein. Das Produkt? Irgendein flüssiger Scheuersand, das war damals eine Innovation auf dem Sektor der Haushaltsreiniger. Die Schauspielerin? Keine Ahnung. Der männliche Darsteller? Vergessen. Die Szene? Häuslich. Die Frau werkelt beschürzt in der Küche. Der Mann sitzt stoffelig da, kehrt ihr den Rücken zu und liest Zeitung. Ach ja, und er hat eine spiegelblanke Glatze. Plötzlich unterbricht seine Gattin – es gibt keinen Zweifel: Diese zwei leben nicht in wilder Ehe – sie schlendert aus der Küche auf ihn zu, in der Hand die Plastikflasche mit dem flüssigen Scheuersand, geöffnet. Sie träufelt ihm die Schmiere auf den Kopf und fragt: „Bodo, kratzt das?“ Ein einziger Satz – und die ganze Fassade der Sinnhaftigkeit ist eingerissen. Das bürgerliche Leben, verwechselbar geworden mit der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie. Weil Fernsehwerbung nicht müde wird, Dramolette genau diesen Inhalts zu verbreiten, ist sie so verhasst. BES