Die Stille ist das Drama

Operationen am offenen Herzen des frühen Kinos: Zunächst in Hamburg und Berlin, dann auch in anderen deutschen und Schweizer Städten ist eine umfangreiche Retrospektive des kanadischen Filmemachers Guy Maddin zu sehen

VON BIRGIT GLOMBITZA

Alles beginnt mit einem programmatischen Psst! „Vorsicht, liebe Kinder! … Stille! Kinder, seid fein ruhig und flüstert!“, raunt eine Texttafel am Anfang von „Careful“. Es ist der Film, mit dem sich der Filmkünstler Guy Maddin, dem Kinos in Hamburg, Berlin und anderen deutschen wie auch Schweizer Städten jetzt eine Retrospektive widmen, 1992 einen festen Platz im Olymp der Kinoavantgardisten reserviert haben dürfte. In „Careful“, seinem komplexesten Werk, errichtet der Kanadier seine eigene künstliche Welt auf dem wüst-romantischen Bilderkanon der deutschen Bergfilme der 20er- und 30er-Jahre. Ein Film, bei dem sich Fabulierlust, unbändige Vorstellungskraft, aber auch parodistischer Witz gegenseitig befeuern, während zugleich eine bildschöne melancholische Verlorenheit den Protagonisten Blei auf die Schultern legt.

Die Geschichte spielt in Tolzbad, irgendwo in den Schweizer Alpen. Ein verwunschenes Örtchen voller geduckter Gestalten, die nichts so sehr fürchten wie Lärm und Aufruhr. Sie gehen leise, stürzen leise, lieben und streiten sich ohne jeden Mucks. Denn jedes laute Wort kann in dieser Bergwelt, über die sich die Schneedecken wie penibel verlegtes Dämmmaterial spannen, eine Lawine auslösen, die Tolzbad und alle umliegende Dörfer in den Abgrund risse. Mutter Zielinde lebt mit ihren beiden Söhnen Johan und Grigorss in diesem potenziellen Katastrophengebiet. Die jungen Männer besuchen die örtliche Butlerschule und erlernen dort ruhiges, taktvolles Benehmen. Ausgerechnet beim in dieser Gegend schon gemeingefährlichem Alphornblasen erwacht Johans Begehren, das sich zunächst an die Dorfschönheit Klara bindet. Doch je gedrosselter das Tolzbader Leben verläuft, umso stärker rumort und rebelliert es unter dem Lärmschutz, bis alle verbotenen Leidenschaften zum Vorschein kommen und sich der Sohn so wahnsinnig wie verliebt über die eigene Mutter beugt.

„Careful“ ist so etwas wie ein Schlüsselwerk in der Kunst des Guy Maddin. Denn in ihm verspinnt sich die große Liebe des Filmemachers zum Stummfilm zu einer selbstreflexiven Fabel. Für den Kanadier ist die Stille des frühen Films selbst das Drama. Sie ist seine ewige Protagonistin. Mit ihrem Pathos, ihren weitausholenden Posen, ihren bisweilen scherenschnittartig zugespitzten Kontrasten in Schwarz und Weiß, ihren vorsprachlichen Ängsten vor dem Ende der Welt.

Am liebsten dreht Maddin mit altmodischen Iris-Linsen, die Licht und Schärfe an den Rändern rasch absaufen lassen. Er arbeitet mit zerklüfteten Zwischentiteln, mit expressionistischen Kulissen, exzentrischen Close-ups und den ganz großen Gesten, in der Liebe wie im Schmerz. In sparsam gestreuten Dialogen bevorzugt er eine stilisierte, wunderlich zeitlose Sprechweise, die durch die atmofreie Nachsynchronisation zusätzlich verfremdet wirkt. Träume, Erinnerungen oder Wahn färbt er gelegentlich ocker ein. Und manchmal ist das Blut rot und das Geld grün.

Mit ihren Kratzern und abgerissenen Rollenenden sehen seine Arbeiten so angegriffen aus, als seien sie zu oft durch den Projektor gelaufen. Doch die raue Textur des Materials und seine spröde Schönheit sind keine nostalgische Spielerei. Sie sind vielmehr fein auf die Narben und die Überhitzung all der derangierten Protagonisten abgestimmt und stoßen unsere Wahrnehmung nebenbei auf die Handwerklichkeit ihrer Schöpfung und die Arbeitsspuren der Filmapparate.

„Ich habe den Eindruck, dass der Stummfilm als künstlerische Form noch im Wachsen begriffen war, als ökonomische Gründe, eben die Nachfrage nach Tonfilmen, ihm ein vorzeitiges Ende bereiteten. Der Stummfilm hätte sich noch weiterentwickeln können, und ich fand es interessant, an genau diesem Punkt anzusetzen“, hat der Filmemacher einmal erklärt. Sein großes künstlerisches Projekt ist also strenggenommen ein Kino, das es nicht gibt und nie gegeben hat. Ein Kino, das sich selbst erfindet, feiert und historisiert. Wie nach einer langen irrlichternden Zeitreise platzt es nun als fiktiver historischer Fund in eine Gegenwart, die sich an diese kinematografische Vergangenheit des Guy Maddin nicht erinnern kann. Vielleicht liegt es daran, dass man sich bei seiner ersten Begegnung mit dem Maddin’schen Universum wie eine eben aufgewachte Komapatientin fühlt, die Bilder und Geschichten zu sehen bekommt, die sie von irgendwo her zu kennen glaubt, um dann doch festzustellen, das sie so etwas noch nie zuvor gesehen hat.

Maddins Geschichten sind wie Fieberträume. Delirierende Melodramen, die auf den ersten Blick so schwülstig sind und doch mit der nächsten Windung so zart und rührend, so grotesk und bizarr werden können, dass man meint, ihr Schöpfer müsse die REM-Phasen von Stroheim, Buñuel und Lynch mit denen von Hans Christian Andersen oder anderen kreuzunglücklichen Märchenerzählern vernetzt haben. Dazu kommt dieser wunderbarer Mix aus ironischen Brechungen und heiligem Ernst, die Maddins Werk weit über den Status bloßer Kultigkeit erheben.

Guy Maddin, der seinen Namen dem B-Movie-Star Guy Madison verdankt, hat – so die Legende – seine Berufung zum Filmkünstler erfahren, als er als Fünfjähriger auf einem Pony trabte, das von Bing Crosby am Halfter geführt wurde. Im Anschluss soll er am Küchentisch selig seine ersten Super-8-Filme zusammengefrickelt haben. Geboren wurde er 1956 in Winnipeg, das selbst für kanadische Verhältnisse als weit ab vom Schuss gilt. In dieser Stadt mit dem niedlichen Namen wird es im Winter minus 40 Grad kalt. Maddin lebt und arbeitet noch heute dort. Gemeinsam mit der „Winnipeg Film Group“ produzierte er 1985 sein offizielles Debüt, den Kurzfilm „The Dead Father“, eine depressive Fabel von einem jungen Burschen, der von seinem verstorbenen Vater noch postum schikaniert wird. Seinen ersten abendfüllenden Film „Tales from the Gimli-Hospital“ (1988) realisierte er mit nur 22.000 Dollar. Im Krankenhaus von Gimli, der größten isländischen Siedlung außerhalb Islands, treffen sich zwei an der Blattern-Epidemie erkrankte Fischer, die feststellen, dass sie einmal die gleiche Frau liebten. Nur begehrte der eine sie lebend und der andere ihre Leiche.

Maddins Zusammenarbeit mit Isabella Rossellini bei einer bezaubernden surrealistischen Hommage an ihren Vater, „My Dad Is 100 Years Old“ (2005), in der die Tochter selbst mit verstellter Stimme in die Rolle von Fellini, Hitchcock, Chaplin und in die ihrer Mutter Ingrid Bergman schlüpfte, spülte den Namen des Regisseurs dann in die internationalen Feuilletons. In „The Saddest Music in the World“ (2003), der ab dem 7. Dezember in den deutschen Kinos gezeigt wird, sehen wir Isabella Rossellini wieder – als schwermütige, beinlose Bier-Baronin. In einem internationalen Song Contest lässt sie die Nationen miteinander um das zermürbendste Lied der Welt in Wettstreit treten. Eine aberwitzige, politisch durchaus delikate Angelegenheit, bei der die Teilnehmer sich auch für die kulturellen Minderwertigkeitskomplexe ihrer Heimat von einem enthemmten Publikum ausbuhen lassen müssen. Gesäumt wird das Spektakel dazu von bodenlos traurigen Schicksalen mit vielen dunklen Geheimnissen, die so verborgen liegen, dass selbst ihre Träger sie kaum rekonstruieren können.

Maddins Filme erzählen von idiosynkratischen Grausamkeiten und hoffnungslos vertrackten Lebenswegen in einer gebrechlichen Welt, in der – wie im Meisterstück „Careful“ – ein Räuspern reichen kann, um alles zum Einsturz zu bringen. Oder in der – wie in „The Heart of the World“ (2000) – sich erst eine tapfere Forscherin des überhitzten Erdkerns annehmen muss, um unseren Planeten zu retten.

Maddins Helden leiden an Gedächtnisverlust, Halluzinationen, Epidemien, Liebestollheit und Gefühlslosigkeit. Sie wollen um jeden Preis lieben, wissen aber beim besten Willen nicht mehr wen („Archangel“). Sie staksen auf gläsernen Beinen („The Saddest Music in the World“), mit unappetitlichen Narben („Tales from the Gimli-Hospital“) oder anämisch („Dracula – Pages from a Virgin’s Diariy“, 2002 ) über die Bühne verschachtelter Melodramen voller Kriege, Inzest, Nekrophilie und Brudermord.

Bei allem Spieltrieb ist es Maddin ernst mit seinen Operationen am offenen Herzen des frühen Kinos. Und die Komplexität seiner Bildebenen, mit denen er die Bauten des expressionistischen Films und seine theatrale Körperlichkeit beispielsweise in „Dracula“ mit den Ausdrucksmitteln des zeitgenössischen klassischen Balletts und aktuellen globalen Hysterien von Überfremdung und Terror verknüpft, macht schnell klar, dass es dem Filmkünstler nicht um kulturpessimistische Träumereien von einer besseren Kino-Zukunft aus dem Geist ihrer stummen Anfänge geht. Schließlich unterwandert er den Glamour vergangener Kinozeiten mit Krankheit und Wahn, die Tragödien mit der despektierlichen Leichtigkeit des Musicals, und er stellt genüsslich verbotene Leidenschaften vor melodramatischem Dekor aus, statt Tabus als maximal sublimierte Effekte in die Kulisse eingehen zu lassen. Ein eigensinniger Kinoethnologe und -erfinder, dessen Kunst und Künstlichkeit die Traumata der Welt im Bild neu organisiert.

Das vollständige Programm und die Termine sind unter www.fdk-berlin.de/de/arsenal/programm.html zu finden