Niemals ankommen

Die Momente, die man kaum registriert, die aber ein Leben entscheidend verändern können, und solche, in denen die Zeit stillzustehen scheint: Ralf Bönts Erzählungen „Berliner Stille“

von ANNE KRAUME

Dass das neue Buch von Ralf Bönt, ein Band mit neun Erzählungen, „Berliner Stille“ heißt wie eine dieser Erzählungen, das ist ein bisschen irreführend. Still sind sie alle, diese Erzählungen, das ja – aber Berlin spielt in ihnen keine prominente Rolle. Die Stadt kommt vor, manche der Protagonisten leben dort, andere haben sich früher dorthin gesehnt, Berlin mag noch immer ein Versprechen sein, aber es verspricht auch nicht mehr als all die anderen Städte und Orte, von denen Ralf Bönts Geschichten handeln. Eher weniger.

München. Korsika. Livorno. Moskau. New York. Valparaíso. Rom. Haifa. Bönts Figuren, meistens Männer zwischen 30 und 40, suchen ihr Glück nicht nur anderswo, sondern vor allem unterwegs. Meistens allerdings, ohne es zu finden. Sie sind Wissenschaftler, Büchermenschen, Ärzte, Studenten oder „so was Ähnliches“, und so wenig nachvollziehbar wie ihre Reiserouten sind oft die Beweggründe für die Reisen. Die Geschichten beginnen unvermittelt, noch unvermittelter hören sie wieder auf, und nur sehr selten kommt jemand irgendwo wirklich an.

Dennoch sind die scheinbar ziellosen Bewegungen der Protagonisten weit davon entfernt, irgendetwas Freies oder gar Bohemehaftes zu haben. Im Gegenteil – oft wirken die Reisenden wie Getriebene, und sowohl der tablettensüchtige Arzt, der in Valparaíso in einem Armenviertel überfallen wird, als auch der Junge, der zum ersten Mal mit seiner Freundin nach Korsika in den Urlaub fährt, müssen erkennen, dass das Reisen selbst gegen gar nichts hilft und schon gar nicht dagegen, dass Dinge aufhören. Vieles ist unspektakulär in diesen Erzählungen, alles alltäglich und nur allzu gut bekannt. Die leisen Katastrophen passieren beiläufig, und wenn von ihnen erzählt wird, dann häufig in Andeutungen und sehr lakonisch.

Und so sind nicht zuletzt auch die Erkenntnisse undramatisch, die Bönts Protagonisten aus ihren Erlebnissen, aus ihren Reisen und Begegnungen und Abschieden ziehen – so undramatisch, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht einmal irgendetwas verändern werden. Höchstens, dass vielleicht ein leiser ziehender Schmerz bleibt, wie bei dem Jungen auf Korsika: „Wenn er später, als Mann, ohne Schlaf liegt, denkt er oft daran, daß man nie weiß, wann man das letzte Mal miteinander schläft.“ Der Blick in die Zukunft hier, die Blicke in die Vergangenheit in anderen Geschichten – auch auf Dauer betrachtet scheint sich nicht viel zu ändern im Unterwegssein dieser Figuren.

Entsprechend lakonisch bleibt der Ton, in dem von diesem Unterwegssein berichtet wird: Da trifft jemand den Exfreund seiner Schwester auf der Post –und erzählt deshalb kurz und in groben Zügen die Geschichte der Schwester und dieses Exfreunds. Die eigentliche Handlung setzt ein, nachdem er auch der Schwester von seiner Begegnung mit dem Exfreund berichtet und mit ihr eine Reise begonnen hat, die getrennt beendet wird: Er reist nach Israel zu einer Freundin, die Schwester nach Kairo, um ihren ägyptischen Freund zu treffen.

Bei ihm schließt sich an Israel eine verwirrte Reise nach Rom an, bei ihr an Kairo das Ende der Beziehung zu dem Ägypter – und all das verläuft wie ein im Hintergrund immer weiter laufendes Gespräch zwischen dem Erzähler und seiner Schwester. Nichts passiert, im Grunde – und doch bekommt diese scheinbar unzusammenhängende Geschichte in der einfachen und unausgesprochenen Traurigkeit der Schwester einen Zusammenhang, der mindestens von Tel Aviv über Kairo nach Rom und zurück nach Berlin reicht.

Womöglich reicht der Zusammenhang sogar noch weiter, über das Ende der Geschichte hinaus. Je länger man über Ralf Bönts Erzählungen nachdenkt und je öfter man sie wieder liest, desto deutlicher wird, dass sie in ihrer scheinbaren Alltäglichkeit vielschichtig und komplex sind, vor allem, wenn man sie alle neun zusammen betrachtet. Motive wiederholen sich, nicht nur das der Reise – da geht es immer wieder um Verlust, um Abschied, um Sprachlosigkeit und die Unmöglichkeit, sie zu durchbrechen. In fast allen Geschichten gibt es zentrale Momente, in denen irgendetwas klar wird, in denen etwas endet oder ein Wendepunkt erreicht wird, auch ohne dass man ihn sofort als solchen erkennt.

Ralf Bönts stille Geschichten lenken die Aufmerksamkeit auf diese Momente, in denen für kurze Zeit wirklich alles stillzustehen scheint. Das ist nicht unbedingt aufregend. Aber unbedingt lesenswert.

Ralf Bönt: „Berliner Stille“. Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 160 Seiten, 16 Euro