„Wir Jungen sind zu vernünftig“

  Ric Graf

„Meine Hoffnung setze ich auf Subkulturen, von denen man wenig mitkriegt: Antifagruppen oder Graffiti-Künstler. Kaum für die Öffentlichkeit wahrnehmbar schaffen sich viele dort Freiräume, die sonst nicht zu finden sind. Es wird im Kleinen etwas bewegt, ohne dass jemand den Anspruch erhebt, die Welt zu verändern“

Mit gerade einmal 20 Jahren hat der Berliner Ric Graf ein Buch über seine Altersgenossen geschrieben. Andere nennen die Mitte der 80er-Jahre Geborenen „Generation Praktikum“ – hineingeboren ins Gefühl ewigen Wohlstands, doch aufgewachsen im Gefühl ewiger Unsicherheit. Zu dieser „prekären Generation“ zählt sich auch Graf in seinem Buch „iCool“, das in dieser Woche erscheint. Er beschreibt ein Leben zwischen oberflächlichen Kontakten und tiefer Einsamkeit, auf der Suche nach Nähe – und auf der Flucht vor ihr. Ein Gespräch mit dem einstigen Schülersprecher und Assistenten Christoph Schlingensiefs über Scheidungs- und Wohlstandskinder, soziales Engagement und Ideale. Dazu die Antwort auf die Frage: Welche Schuld hat Joschka Fischer an der ganzen Situation?

INTERVIEW MATTHIAS LOHRE

taz: Herr Graf, musste Ihr Buch denn wirklich sein?

Ric Graf: Warum denn nicht?

Mit gerade mal 20 Jahren schreiben Sie ein Buch über die Generation Praktikum. Amazon.de führt „iCool“ unter „Biographien & Erinnerungen“. Fangen Sie nicht reichlich früh mit der Selbstbespiegelung an?

Ich schreibe ja keine Memoiren, sondern beschreibe einen Entwicklungsstand, den ich mit vielen Menschen meines Alters teile. Wir sind als voraussichtlich letzte Generation im Gefühl ewigen Wohlstands aufgewachsen. Und das ist spätestens seit dem Platzen der IT-Blase im Jahr 2001 weg. Was folgt jetzt? Für mich war es interessant, ein Buch über diese Um-die-Zwanziger zu schreiben, während ich selber einer von ihnen bin – ohne die Distanz von einigen Jahren.

Generation X, Generation Golf, Generation Praktikum: Neu ist die Sorge um die eigene Zukunft nicht, ebenso wenig die Sehnsucht, zu einer „Generation“ zu gehören. Was ist bei Ihnen so anders?

Mein Buch heißt ja nicht „Generation iCool“. Mir geht es nicht darum, mich mit allen Mitteln abzugrenzen. Trotzdem gibt es Unterschiede zu anderen Generationen: Jugend ist zeitlos, aber ihre Bedingungen ändern sich. 1968 gab es eine andere soziale Stimmung als heute. Auch die Generation Golf hat in ihrer Kindheit anderes erlebt als wir. Meine Altersgenossen sind in einer paradoxen Situation. Einerseits können wir vieles lange Zeit ausprobieren: Wir reisen, machen Praktika, trinken früh Alkohol, haben früh Sex, feiern, viele experimentieren mit Drogen. Gleichzeitig sind wir auf gewisse Art früher erwachsen als noch die Generation Golf: Ein Studienabschluss mit 24 wäre gut, dazu Auslandsaufenthalte, Mehrsprachigkeit und so weiter. Wir stehen unter riesigem Druck und müssen uns vielleicht früher als andere zuvor Sorgen machen.

Den Druck scheinen Sie doch gut auszuhalten: Auf ihrer Schöneberger Oberschule waren Sie Schülersprecher. Nach dem Abi arbeiteten Sie als Assistent von Christoph Schlingensief, schrieben für Magazine und Zeitungen. Jetzt erscheint Ihr erstes Buch. Eine ganze Menge.

Die verschiedenen Projekte waren immer spannend, und ich freue mich noch heute, Christoph Schlingensief assistiert zu haben. Nach sechs Monaten wusste ich aber: Ich will nicht nur assistieren, sondern schreiben.

Worin besteht der große Druck auf Ihrer Generation?

Was generell in unserer Gesellschaft immer wichtiger wird – Coolness, Oberflächlichkeit, Markenfixierung, Zukunftsängste –, prägt in noch stärkerem Maße meine Generation. Meine Generation ist nicht komplett anders als, sagen wir, die der 40-Jährigen. Nur: Wir kennen gar kein anderes Leben. Wir sind damit groß geworden.

Sprechen Sie da nicht weniger von einer gesamten „Generation als vielmehr von einem kleinen Teil: von Mittelstandskindern, die zum Studieren in Großstädte ziehen und Geld von ihren Eltern bekommen?

Klar, ich spreche für etwa 17- bis 23-Jährige aus urbanen Milieus. Ich behaupte nicht, dass ich für das Mädchen auf der bayerischen Alm spreche. Anders als ein Soziologe erhebe ich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Das will ich auch gar nicht. Vieles passt nicht gleichzeitig auf den Brandenburger Hauptschüler und den Kölner Abiturienten. Aber manches schon.

Zum Beispiel?

Das Prekäre, dieses Gefühl der grundsätzlichen Unsicherheit in Job und Privatleben ohne Aussicht auf Besserung. Mitglieder der Generation Golf waren mit 30 Jahren schon in beruflichen Spitzenpositionen und glaubten, so gehe es weiter. Diesen Glauben hat heute niemand mehr. Diese „Prekarisierung“ hat in den vergangenen Jahren die Mittelschicht erreicht.

Greift dieses Gefühl der Unsicherheit nicht noch tiefer, in die Familien? Die Zahl der Scheidungskinder wächst seit Jahren und damit die Zahl der im Urvertrauen früh verletzten Menschen.

Klar hat das damit zu tun. Die Mehrheit der Leute in meiner Oberschulklasse kam aus Scheidungs- beziehungsweise Trennungsfamilien. Aus einem urbanen Phänomen ist ein allgemeines geworden. Da entsteht ein Bedürfnis nach Werten – nicht im konservativen Sinne. Solche Erlebnisse prägen den Umgang vieler Jugendlicher mit Beziehungen, Liebe, familiären Bindungen. Das hat sicher seinen Anteil am weit verbreiteten schizophrenen Verhalten: Jeder will eine Beziehung, aber dies zu sagen trauen wir uns kaum. Wir wollen cool und stark wirken aus Angst vor Verletzung. In meinem Buch heißt es: „Wenn wir jemanden in einer Telenovela weinen sehen, sind wir gerührt und zeigen Verständnis – bei uns selbst würden wir die Tränen meist als Schwäche ansehen.“

Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?

Meine Eltern trennten sich, als ich fünf Jahre alt war. Sie stritten sich um das Sorgerecht für mich. Ich wollte ganz instinktiv zu meiner Mutter ziehen. Sie erkrankte sehr bald an Krebs. Zwei Jahre später starb sie.

In Ihrem Buch schreiben Sie: „Ich verband mit ihrem Wegsein kein wirkliches Fühlen.“ Das klingt hart.

Ich weiß. Es war aber ein Schutz. Ich wollte allen beweisen, wie gut es mir geht und wie wenige Probleme ich habe.

Wie lange ging das gut?

Bis ich 14, 15 war. Da merkte ich, wie sehr ich mich als kleines Kind auf meine Mutter konzentriert hatte und wie sehr sie mir fehlte. Heute kann ich darüber sprechen, suche sogar die Auseinandersetzung darüber. Und da kommt wieder das Lebensgefühl der Jungzwanziger ins Spiel.

Warum?

Weil viele Menschen meiner Generation sich nicht trauen, über Ängste und Trauer zu sprechen. Auf einer Party kam ich mit einem Mädchen ins Gespräch, das ich nicht kannte und nicht sonderlich spannend fand. Aber als sich herausstellte, dass wir beide einen Elternteil verloren haben, unterhielten wir uns lange. Sie stand auf, um ein Bier zu holen. Als ich sie später suchte, hatte sie die Party schon verlassen. Das Komische war: Mir war es nicht ganz unrecht. Bei viel Nähe fühlen wir uns schnell unwohl. Ausgerechnet mit kaum bekannten Menschen können wir uns deshalb oft am besten über derart Intimes austauschen.

Jede neue Generation gilt als die bislang schlimmste, gleichgültigste. Haben Sie dem etwas entgegenzusetzen? Vielleicht sogar Ideale?

Ich wäre gern ein Idealist, wenn man darunter einen Menschen versteht, der weiter denkt, ungewöhnliche Zusammenhänge herstellt, Mut zur Aussage hat. Ich fände es großartig, wenn die Politik das Träumen erlauben würde. Wenn es nicht nur um die Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger ginge, sondern um die Frage: Wie wollen wir leben? Aber Biografien wie die von Joschka Fischer haben vielen gezeigt, dass von großen Idealen letztlich oft nur der Griff nach dem Posten bleibt. Junge Menschen hierzulande sind zu vernünftig. Viele versuchen lediglich, eine Nische zu finden und trotz allem einen guten Job zu ergattern. Als am Praktikantentag viele junge Menschen auf den Straßen demonstrierten, da taten sie es nicht an einem Arbeitstag, sondern am Samstag.

Haben Sie keine Hoffnung, dass sich an dieser Haltung etwas ändert?

In zehn Jahren vielleicht. Falls sich bis dahin die gesellschaftlichen Zustände weiter zugespitzt haben, könnten die dann Anfang-20-Jährigen radikaler auftreten. Wer heute zehn Jahre alt ist, der kennt nur noch gesamtgesellschaftliche Unsicherheit.

„Coolness, Oberflächlichkeit, Markenfixierung, Zukunftsängste – meine Generation ist nicht komplett anders als die der 40-Jährigen. Nur: Wir Anfang-Zwanziger kennen gar kein anderes Leben. Wir sind damit groß geworden“

Und was geschieht bis dahin? Viele Junge engagieren sich doch bei Attac oder anderen Nichtregierungsorganisationen.

Das ist ein ähnliches Phänomen wie beim Kirchentag oder den Irak-Demos. Kurze Zeit gehen hunderttausende auf die Straße, aber daraus entwickelt sich wenig. Hoffnung setze ich eher auf Subkulturen, von denen man wenig mitbekommt: Antifagruppen oder Graffiti-Künstler. Kaum für die Öffentlichkeit wahrnehmbar schaffen sich viele von uns dort Freiräume, die sonst nicht zu finden sind. Es wird im Kleinen etwas bewegt, ohne dass jemand den Anspruch erhebt, die Welt zu verändern.

Was ist aus dem Generationenkonflikt geworden? Mussten Sie sich von Ihrem Vater losreißen?

Nein, große Kämpfe gab es nicht. In politischen Ansichten sind viele Jüngere und Ältere nicht mehr weit entfernt, also fällt auch das als Konfliktstoff aus. Dadurch geht vielleicht auch Dynamik verloren. So etwas Radikales wie die 68er-Bewegung wäre heute nicht mehr möglich. Streit gibt es in vielen Fällen eher zwischen älteren – früh konservativ gewordenen – und jüngeren Geschwistern.

Warum stehen Sie morgens auf?

Weil ich hoffe, dass einer dieser seltenen wahrhaftigen Augenblicke geschehen könnte. Ein gutes Gespräch, Gemeinschaftsgefühle mit mir wichtigen Menschen. Das gibt mir Energie. Oder eine gute Party.

Wie, glauben Sie, leben Sie in zehn Jahren?

Mir sagte vor kurzem ein Anfang-30-Jähriger: „Glaub nicht, dass es besser wird.“ Es wird schwieriger, irgendwo anzukommen, weil die Suche immer länger dauert. Beruflich und privat will man sich immer weniger fest binden. „Erwachsen sein“, das ist für viele kein Ziel mehr, weil es mehr Verantwortung bedeutet. Vielleicht komme ich mit 50 Jahren irgendwo an, vielleicht nie.

Wie könnte Ihr nächstes Buch in fünf Jahren heißen: „iCool 2“?

Auf keinen Fall. Vielleicht „Sind wir an unserer Coolness erstickt?“.