Debatte Einwanderung und Wirtschaft: Ökonomie der Flucht

Deutschland könnte Millionen von Syrern aufnehmen, ohne dass die Wirtschaft darunter leidet. Das zeigen der Mauerfall und die Aussiedler.

Gutes Geschäft: Einwanderer zahlen mehr, als sie vom Staat bekommen. Bild: ap

Was passiert, wenn man plötzlich zwei Billionen Euro ausgegeben muss? Die Deutschen wissen es: nichts Schlimmes. Sie haben eine Wiedervereinigung überstanden, die sehr teuer war, ohne dass ihre Wirtschaft kollabiert wäre.

Der Beitritt der DDR war ein beispielloses historisches Experiment: Plötzlich musste Westdeutschland 16 Millionen Ostdeutsche zusätzlich versorgen – und ein abgewirtschaftetes Land renovieren. Doch trotz der gigantischen Kosten von zwei Billionen Euro steht Deutschland besser da als seine Nachbarn. Die deutsche Staatsverschuldung beträgt knapp 80 Prozent der Wirtschaftsleistung – doch Frankreich und Großbritannien kommen auf eine Verschuldung von über 90 Prozent, obwohl sie keine teure Wiedervereinigung stemmen mussten.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es war richtig, dass zwei Billionen Euro in den Osten geflossen sind. Den Zweiten Weltkrieg haben die Deutschen gemeinsam angezettelt, aber nur ein Drittel hatte das Pech, als sowjetische Besatzungszone zu enden. Es war keine Leistung der Westdeutschen, dass sie dem Westen angehörten.

Doch ganz jenseits dieser moralischen Erwägungen zeigt die Wiedervereinigung, wie leistungsfähig der moderne Kapitalismus ist. Er expandiert einfach, wenn die Zahl der Konsumenten steigt. Billionen Euro lassen sich mühelos aufbringen, denn letztlich finanziert sich jeder Bewohner selbst. Diese historische Lektion lässt sich auf die heutigen Flüchtlinge übertragen.

Keine Bürde für das Gemeinwesen

Ökonomisch wäre es für Deutschland kein Problem, Millionen von Syrern aufzunehmen. Dennoch werden immerzu wirtschaftliche Argumente vorgebracht, um zu erklären, warum Deutschland möglichst viele Asylbewerber abwimmelt. Das Mantra lautet: „Wir können es uns nicht leisten.“ Doch diese Behauptung ist falsch.

Um erneut in die bundesdeutsche Geschichte zurückzureisen: Parallel zur Wiedervereinigung hat Deutschland ab 1990 noch rund 2,5 Millionen Aussiedler aufgenommen. Die meisten von ihnen stammten aus der ehemaligen Sowjetunion, viele von ihnen sprachen kein Deutsch und waren russisch sozialisiert. Auch war ihre Ausbildung oft nicht besonders gut – und in einer kapitalistischen Wirtschaft nur eingeschränkt zu gebrauchen.

Mit diesem Profil können viele Syrer mithalten. Dennoch wird bei den Syrern jetzt unterstellt, dass sie eine schwere Bürde für das deutsche Gemeinwesen wären – während bei den Aussiedlern angenommen wurde, dass sie sich in die deutsche Gesellschaft integrieren. In der Tat: Die Aussiedler sind eine Erfolgsgeschichte. Sie sind selten arbeitslos, und ihre Kinder schneiden in der Schule oft so gut ab, dass sie weit höhere Abschlüsse erwerben, als ihre Eltern je hatten.

Einwanderer zahlen gut

Man kann lange streiten, wie viele Aussiedler „deutsch“ waren, aber zumindest die mitgereisten Eheleute und Kinder hatten oft keinen Schimmer vom „Deutschtum“. Doch diese Realität war unwichtig; wichtig war nur die Fiktion, dass sie zu Deutschland gehörten. Aus Nichtdeutschen wurden erfolgreiche Deutsche, weil sie sofort als Deutsche behandelt wurden. Sie bekamen einen Pass, durften bleiben – und arbeiten.

Einwanderer sind ein gutes Geschäft, wenn man sie arbeiten lässt, hat auch eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung festgestellt. Pro Kopf und Jahr zahlen hiesige Ausländer 3.300 Euro mehr an Steuern und Sozialbeiträgen, als sie selbst vom Staat bekommen – und in dieser Rechnung sind die Bildungsausgaben für die Kinder bereits enthalten. Noch sind viele jung, aber selbst wenn sie später Rente beziehen, bleibt der Saldo positiv: Wird das ganze Leben berücksichtigt, zahlt jeder Ausländer im Durchschnitt 22.300 Euro an den deutschen Staat.

Teuer werden Einwanderer erst, wenn man darauf besteht, dass sich ein Flüchtling wie ein Flüchtling fühlen muss – und ihn in bewachten Heimen abschottet, wo strikt untersagt ist, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Dieser Unsinn kostet Milliarden, ist aber nicht den Asylbewerbern anzulasten.

Die Skepsis ist verständlich

Die Deutschen halten sich für großzügig, wenn sie Fremde aufnehmen, und sind fest überzeugt, sie würden materielle Opfer bringen. Ein Irrtum, der leider naheliegend ist. Man sollte die Deutschen nicht gleich verteufeln, nur weil viele misstrauisch reagieren, wenn Menschen in ihr Land drängen. Denn bei jeder Einwanderung handelt es sich um eine asymmetrische Beziehung – jedenfalls auf den ersten Blick.

Der Migrant oder Flüchtling will in Deutschland leben, umgekehrt wollen die Deutschen aber weder in Serbien noch in Syrien wohnen. Diese Beobachtung ist gnadenlos trivial, hat aber psychologische Folgen: Die Einwanderung ist keine gleichrangige Tauschbeziehung, doch nur ein Tausch wird sofort als ökonomisch vorteilhaft erkannt. So aber haben die Deutschen das Gefühl, dass sie an die Einwanderer etwas „abgeben“ sollen, ein Teil von ihrem Land oder ihrem Wohlstand.

Dieser Irrtum wird nicht nur von der CSU befördert, die letztlich jedem Nichtdeutschen vorwirft, nicht „deutsch“ genug zu sein. Viele Flüchtlingsorganisationen und Menschenrechtler tappen in die gleiche Falle, nur umgekehrt. Auch sie verharren in einem normativen Diskurs und fordern die Deutschen auf, zu „teilen“ oder „solidarisch“ sein. Sobald aber von Moral die Rede ist, vermuten die Zuhörer misstrauisch, dass in ihr Portemonnaie gegriffen werden soll.

Es mag zynisch klingen, über die materiellen Vorteile nachzudenken, die Einwanderer mit sich bringen könnten, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken. Aber nur wenn die ökonomischen Ängste ausgeräumt sind, lässt sich debattieren, wie man helfen kann – und will.

Deutschland könnte Millionen von Syrern aufnehmen, ohne wirtschaftlich zu leiden. Das zeigt die Geschichte der Wiedervereinigung. Allerdings bleiben Fragen, die den praktikablen Zuzug begrenzen: Wie sorgt man für Unterkünfte? Wie verhindert man Gettos? Wie viele Deutschkurse lassen sich organisieren? Trotzdem würden die Antworten ergeben: Es wäre im eigenen Interesse der Deutschen, weit mehr als die geplanten 20.000 Syrer aufzunehmen.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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