Jahrestag Chemieunglück in Indien: Bhopals Drama

Schon vor der Katastrophe von Bhopal 1984 warnte ein Journalist vor schlimmen Sicherheitsmängeln. 30 Jahre später erzählt er seine Geschichte.

Mahnwache für die Opfer des Chemieunfalls. Bild: reuters

DELHI taz | Auf Raajkumar Keswami lastet ein Fluch. Der 64-jährige Journalist hat in seinem Leben viele spannende, lustige und kuriose Texte geschrieben. Die meisten sind vergessen. Nur ein Thema bestimmt sein gesamtes Leben: die Katastrophe von Bhopal 1984. Es ist der wohl größte Chemieunfall aller Zeiten – Keswami ahnte schon vorher, dass es so kommen würde.

Es war kurz nach Mitternacht am 3. Dezember 1984, als bei Reinigungsarbeiten in der Fabrik von Union Carbide Wasser in einen Tank mit Methylisocyanat (MIC) gelangte, einem Grundstoff von Insektiziden. Sofort kam es zu einer chemischen Reaktion, 40 Tonnen hochgiftiges MIC entwichen.

Eine riesige Giftwolke breitete sich über die angrenzende Millionenstadt und ihre Einwohner aus. Sie verätzte Haut, Augen, Lungen und Schleimhäute von Tausenden Menschen. Viele starben mit aufgerissenem Mund, weil sie zwischen Luftholen und Erbrechen ihr Leben verloren.

Bis heute kennt keiner die genaue Opferzahl: Zwischen 10.000 und 25.000 Menschen starben in den ersten Tagen, schätzungsweise 500.000 erlitten teils irreversible Gesundheitsschäden. Noch immer leiden viele unter chronischen Beschwerden. Für Keswami begann die Katastrophe allerdings schon drei Jahre zuvor, am 24. Dezember 1981. An jenem Tag kam ein Freund bei Wartungsarbeiten in der Fabrik mit einer geringen Menge der Chemikalien in Kontakt. Einen Tag später war er tot. „Es war ein riesiger Schock. Niemand wusste, wie gefährlich diese Stoffe waren.“

Wenige Tropfen können tödlich sein

Seit Anfang der 1970er Jahre ließ das amerikanische Unternehmen Union Carbide in Bhopal Methylisocyanat produzieren. Eine hochgiftige chemische Verbindung, bereits wenige Tropfen können tödlich sein. Bei Menschen greift es Schleimhäute an und verätzt innere Organe.

Der Tod seines Freundes hat Keswami nicht mehr losgelassen. Er begann zu recherchieren, freundete sich mit den Arbeitern an, um in die Fabrik zu kommen, befragte Forscher und besuchte Labore. Neun Monate lang trug er Informationen zusammen. Was er erfuhr, schockierte ihn dermaßen, dass er mehrere Berichte über die Gefahren für seine Heimatstadt veröffentlichte: Am 17. September 1982, über zwei Jahre vor der eigentlichen Katastrophe, erschien Keswamis erster Artikel.

Die Überschrift lautete: „Bitte retten Sie diese Stadt!“ Keswami beschrieb, wie gefährlich die hergestellten Chemikalien und wie unzureichend die vorhandenen Sicherheitsmaßnahmen waren. Am 1. Oktober 1982 folgte Keswamis nächster Text: „Bhopal sitzt auf einem Vulkan. Die gesamte Bevölkerung der Stadt kann innerhalb einer Stunde sterben.“ Wenig später richtete er einen eindringlichen Appell an die Leser: „Wenn wir es jetzt nicht kapieren, werden wir alle vernichtet.“

Am 16. Juni 1984, sechs Monate vor dem Unglück, veröffentlichte Keswami schließlich einen letzten Artikel. Darin zitiert er aus einem unternehmensinternen Prüfbericht der Firma Union Carbide. Laut Keswami kamen US-amerikanische Prüfer mit Verweis auf einen anderen Zwischenfall in Indien zu folgendem Schluss: Sollte ein ähnlicher kleiner Zwischenfall in Bhopal auftreten, „wird es keinen einzigen Zeugen mehr geben, der berichten kann, was je passiert ist“.

Tatsächlich ereignete sich vor 30 Jahren in der Hauptstadt des Bundesstaats Madhya Pradesh die wohl größte Chemiekatastrophe aller Zeiten. Noch immer wird vor Gerichten gestritten, wer für die Katastrophe verantwortlich ist, wer die Opfer entschädigen sollte und wer die Folgen der Katastrophe beseitigen muss. 1989 einigte sich Union Carbide mit Indiens Regierung auf Entschädigungszahlungen in Höhe von 470 Millionen Dollar. Doch viele Opfer klagen, dass sie nie Geld erreicht habe.

Streit über die Verantwortung

2001 wurde Union Carbide vom heutigen Dow-Chemical-Konzern aufgekauft. Der neue Besitzer argumentiert, dass Union Carbide damals in indischer Hand gewesen sei. Die Fabrik sei von Indern in Indien errichtet und betrieben worden, entsprechend liege auch die Verantwortung bei den indischen Behörden. Endgültig geklärt ist das nicht.

Zudem sind Umweltschützer überzeugt, dass Union Carbide schon vor der Katastrophe Chemieabfälle einfach ausgekippt oder in Flüsse eingeleitet habe. „Alles ist ungefiltert ins Grundwasser eingedrungen. In Proben haben wir Arsen, Benzole und Schwermetalle gefunden“, sagt Chandra Bhushan vom Zentrum von Wissenschaft und Umwelt in Delhi. Im Boden, im Gemüse und sogar in der Milch stillender Mütter konnten Spuren von Chemikalien nachgewiesen werden.

Von Union Carbide wurde bislang niemand zur Rechenschaft gezogen. Der damalige Vorstandschef Warren Anderson stand zwar auf der Liste der Angeklagten. Doch Anderson starb vor einigen Wochen im Alter von 92 Jahren. Keswamis Appelle verhallten damals ungehört. „Die Leute dachten, ich sei verrückt. Und ganz ehrlich, ich hätte das auch gedacht, wenn ich das alles nicht selbst gesehen hätte.“

Anmerkung: In einer früheren Version des Textes war davon die Rede, dass Methylisocyanat (MIC) ein Insektizid sei. Tatsächlich wird MIC bei der Herstellung von Insektiziden verwendet, ist deswegen aber nicht weniger giftig.

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