Kolumne Bestellen und Versenden: Alles sauber am Spielplatz

Distanzierende Satzbausteine, die eine neue Klassenlage rhetorisch abspalten: über die neue Bürgerlichkeit und ihre reaktionären Wünsche.

Alles sauber? Teilnehmer einer Schornsteinfegerkonferenz in der Schweiz. Bild: dpa

Die sogenannte Neue Bürgerlichkeit ist für viele Betroffene eine schambesetzte Angelegenheit. Man kennt diese larmoyant eingefärbten Selbsterklärungen von Spielplatzgesprächen: „Früher hätte ich mir nicht vorstellen können, aufs Land zu ziehen …“ – „Ja, so ein Kleingarten ist vielleicht spießig, aber für Kinder ist das schon schön.“ – „Das habe ich einmal anders gesehen, aber es stimmt schon: Kinder brauchen Rituale.“

Undenkbar scheint es, ohne distanzierende Satzbausteine zur eigenen Lebensform zu stehen, immer muss ein „eigentliches“, unkorrumpiertes Ich behauptet werden, das der Umwertung aller Werte angeblich vorgängig ist.

Mein persönliches Symptom ist die Schweiz. Der erste Abschied von den Eltern führte mich vor 30 Jahren nach Zürich in ein besetztes Haus, die Schweiz wurde für mich zum Terrain von Gefahren und unwahrscheinlichen Begegnungen. Als ich im Sommer dort eine Freundin besuchte, war es ganz anders, die Schweiz kam mir vor wie ein Elternwunderland, friedlich, sauber, sicher.

In den Parks keine Hundekacke, auf Spielplätzen keine Zigarettenkippen. Öffentliche Mülleimer werden dort nicht nur regelmäßig geleert, sondern gleich noch von außen abgespritzt. Und die Autobahnklos sehen aus wie slicke Townhouses in Prenzlauer Berg.

Soldaten als Slacker

Ich war fasziniert und – entsprechend der neobürgerlichen Larmoyanz – von meiner Faszination zugleich angeekelt. Aber die Distanzierung vom heimlichen Spießerbegehren bleibt dennoch möglich. Wenn ich durch Zürich fahre, kann ich am Stauffacher aus den Kriegstagebüchern rezitieren und lässig darauf hinweisen, dass ich hier einst in einem besetzten Haus gewohnt habe. Damals war mir Hundekacke noch wurst.

Apropos Krieg: Gesteigert wurde die Schweiz-Begeisterung durch den Besuch einer Ausstellung in Winterthur. Dort waren selbst gebastelte Postkarten schweizerischer Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg an ihre Lieben zu sehen. Da diese Soldaten vier Jahre nichts zu tun hatten und in ihrer gleichsam kafkaesken Lage auf ein Stahlgewitter warteten, das nie kommen sollte, inszenierten sie sich auf den Postkartenfotos in albernen Posen. Die soldatisch gepanzerten Körper lösten sich in burleskem Quatsch-Gehabe auf. Der Soldat als Slacker, der auf die Disziplin pfeift. Oh, wunderbares Neutrum Schweiz. Beruhigend: Überaffirmative Schweiz-Schwelgerei liegt im Trend.

Kürzlich geisterte das Phantasma einer „Großschweiz“ von Schwaben bis zur Lombardei durch die Presse. „Die Idee, das Schweizer Territorium mit einigen Provinzen und Bundesländern zu arrondieren, ist populär – vor allem auch im Ausland“, berichtete die NZZ. In der Sommerausgabe der kritischen Kunstzeitschrift Frieze d/e schreibt der Journalist Daniel Binswanger: „Verglichen mit dem europäischen Umland herrschen in der Schweiz nach wie vor paradiesische Zustände.“

Die dunklen Seiten der Schweiz

Die Schriftstellerin Sibylle Berg bedauert an gleicher Stelle in einem Text über Zürich zwar: „Die rauchenden Freaks sind verschwunden, unbegradigte Orte gibt es nicht mehr.“ Dennoch habe Zürich die beste Lebensqualität überhaupt. Einen faktenreichen Beweis dieser These versucht der Journalist Wolfgang Koydl in seinem Buch „Die Besser-Könner. Was die Schweiz so besonders macht“. Er schreibt über die Schweizer: „Konsens, Kommerz, Konfliktvermeidung: Sie haben alles gut im Griff.“ Überhaupt stünde die Schweiz für das perfekte Zusammenleben von Menschen.

Gleichwohl kommen in den genannten Publikationen die dunklen Seiten der helvetischen Kultur zur Sprache. Binswanger beklagt die „tiefe Schizophrenie“ der Schweiz, die internationalisiert sei, sich aber gleichzeitig nach außen abschotte. Und der Politiker und Autor Jean Ziegler kommt in Koydls Buch auf die „Mythen und irrationalen archaischen Vorstellungen“ des „schweizerischen Kollektivbewusstseins“ zu sprechen.

So gesehen ist das Land eine ehrliche Projektionsfläche, die den von Neuer Bürgerlichkeit kontaminierten Subjekten – auch denen, die ihre neue Klassenlage rhetorisch abspalten – verdrängte reaktionäre Wünsche zurückspiegelt. Sehnsüchte nach Sauberkeit und Sekurität sind selten unschuldig, da hilft es auch nicht, dass man früher ja mal ganz anders drauf war.

Aram Lintzel ist Referent für Kulturpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und freier Autor. Er lebt in Berlin.

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Politikwissenschaftler, seit 2022 Referatsleiter im Leitungsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Autor für verschiedene Publikationen. Er schrieb von 2009 bis 2016 die monatliche taz-Kolumne "Bestellen und Versenden", seither freier taz-Autor. Themen: Popmusik, Theorie, Ideologiekritik.

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