Flug MH17: Über 100 Passagiere weiter vermisst

An der ukrainischen Unfallstelle herrschen chaotische Zustände. Ermittler werden bei ihrer Arbeit behindert. Separatisten räumen den Abtransport von Leichen ein.

An der Absturzstelle: OSZE-Beobachter, Journalisten und ein prorussischer Separatist. Bild: reuters

DONEZK/KIEW dpa | Die Separatisten in der Ostukraine haben den Abtransport sterblicher Überreste von der Absturzstelle der Passagiermaschine bestätigt. „Einige Dutzend Leichen“, die mitten in der Ortschaft Grabowo gelegen hätten, seien „in Anwesenheit von OSZE-Beobachtern“ nach Donezk gebracht worden, sagte der Rebellensprecher Sergej Kawtaradse am Samstag.

„Es war aus hygienischen Gründen unmöglich, sie weiter dort liegen zu lassen“, sagte Kawtaradse. Die Leichen würden in Donezk ausländischen Experten übergeben. Zuvor hatte die ukrainische Führung den Aufständischen vorgeworfen, Beweismaterial vom Absturzort zu entwenden.

Zwei Tage nach dem Absturz der malaysischen Boeing beklagen ausländische Ermittler an der Unfallstelle in der Ostukraine massive Behinderungen durch Separatisten. Ein Sprecher der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erklärte in Wien, bewaffnete Rebellen hätten die Arbeit der etwa 20 OSZE-Vertreter am Absturzort auch am Samstag erheblich eingeschränkt.

Die ukrainische Regierung beklagte sich ebenfalls über Restriktionen. Die prorussischen Separatisten wiesen die Vorwürfe zurück und sagten den Experten eine Zusammenarbeit zu. Sie wollen aber im Absturzgebiet bleiben, um vor Ort eine „objektive Untersuchung“ zu gewährleisten.

Die USA gehen davon aus, dass Rebellen das Flugzeug in einer Höhe von 10.000 Metern mit einer Rakete abgeschossen haben. Bei dem Absturz am Donnerstag waren alle 283 Passagiere und 15 Besatzungsmitglieder an Bord der Boeing ums Leben gekommen – unter ihnen 193 Niederländer und 4 Deutsche. Die Fluggesellschaft Malaysia Airlines hat inzwischen eine Namensliste der Opfer veröffentlicht.

Die Hintergründe der Katastrophe sind weiter unklar. Nach Angaben von US-Präsident Barack Obama sind dafür sehr wahrscheinlich moskautreue Kräfte verantwortlich. Die Boden-Luft-Rakete, die das Flugzeug abgeschossen habe, sei aus einem von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet abgefeuert worden, sagte Obama am Freitag. Russland kritisierte Berichte über einen angeblichen Abschuss der Maschine am Samstag als „voreilig“. Damit sollten offenbar Ermittler beeinflusst werden, teilte das Außenministerium in Moskau mit.

Kein vollständiger Zugang zur Absturzstelle

Der OSZE-Sprecher sagte, dem Team sei erneut der vollständige Zugang zur Absturzstelle verwehrt worden. Die Gruppe habe aber zumindest mehr Bewegungsfreiheit als am Vortag bekommen. Am Freitag konnten sich die Beobachter nur etwa 70 Minuten lang am Absturzort aufhalten.

Auch die rund 170 ukrainischen Experten hätten sich lediglich 30 Minuten unter Aufsicht bewaffneter Aufständischer an der Absturzstelle nahe Grabowo aufhalten dürfen, beklagte Vize-Regierungschef Wladimir Groisman am Samstag in Kiew.

Der ukrainische Geheimdienstchef Valentin Naliwaitschenko teilte mit, die Aufständischen hätten einer „Sicherheitszone“ rund um das Wrack zugestimmt. „Wir hoffen nun, dass die Terroristen verschwinden und uns das Arbeiten an der Absturzstelle ermöglichen“, sagte er.

Von mehr als 100 Absturzopfern fehlte auch zwei Tage nach dem Unglück weiter jede Spur. Bislang seien 186 Leichen geborgen worden, teilte der staatliche ukrainische Rettungsdienst am Samstag mit. Die Suche nach den übrigen Opfern gestalte sich sehr schwierig, da die Wrackteile über etwa 25 Quadratkilometer verstreut seien.

Weitere Fachleute werden in der Ukraine erwartet. Der niederländische Außenminister Frans Timmermans ist inzwischen mit einer Gruppe von 15 Experten in Kiew angekommen. Auch 132 Experten aus Malaysia, darunter Ärzte und Militärs, sind inzwischen dort. Sie werden wohl an diesem Sonntag zum Absturzort fahren.

Deutsche Experten in der Ukraine

Auch Deutschland beteiligt sich an der Bergung und Identifizierung der Opfer. Zwei Fachleute des Bundeskriminalamtes reisten am Samstag in die Ukraine. Ein BKA-Sprecher sagte, sie wollten sich in Kiew mit einem größeren Team von Identifizierungsexperten treffen und das weitere Vorgehen besprechen.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow sprach sich für die Einbindung der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) in die Untersuchung ein. Das teilte das Außenministerium in Moskau am Samstag nach einem Telefonat Lawrows mit dessen US-Kollegen John Kerry mit. Beide Minister hätten betont, dass der Flugschreiber den Behörden übergeben werden müsse.

Die ukrainische Regierung warf den prorussischen Separatisten vor, am Absturzort Beweismaterial zu vernichten. Die Aufständischen wollten mit Lastwagen Wrackteile über die russische Grenze bringen, hieß es in einer am Samstag in Kiew veröffentlichen Mitteilung. Die Separatisten versuchten, „Beweise ihrer Mitwirkung an dem Unglück vertuschen“. Zudem hätten die militanten Gruppen 38 Leichen von der Absturzstelle in die Großstadt Donezk gebracht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonierte am Samstag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Merkel und Putin seien sich einig, dass es rasch ein direktes Treffen der Kontaktgruppe aus Vertretern der Ukraine, Russlands und OSZE mit den Separatisten geben müsse, um eine Waffenruhe zu vereinbaren, teilte der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter in Berlin mit.

US-Präsident Obama telefonierte am Freitag mit Merkel, dem britischen Premierminister David Cameron, Polens Premierminister Donald Tusk und Australiens Premierminister Tony Abbott, wie das Weiße Haus mitteilte. Alle fünf Politiker sprachen sich für eine schnelle internationale Untersuchung aus, um die Hintergründe des Absturzes zu klären.

Großbritannien forderte die EU auf, ihre Haltung gegenüber Russland zu überprüfen. Darin sei sich Premierminister David Cameron mit seinem niederländischen Amtskollegen Mark Rutte einig, teilte die Regierung in London nach einem Telefonat der Regierungschefs mit. Die EU hatte ihre Sanktionen gegen Moskau kürzlich verschärft. Noch richten sie sich aber nicht gegen ganze russische Wirtschaftszweige.

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