Kernkraft in Finnland: Die Liebe zum Atom

Warum nur ein AKW bauen, wenn man auch noch das Endlager haben kann? Ein Besuch in der „elektrischen Gemeinde“ Eurajoki in Finnland.

Fast ein Postkartenmotiv: Drei Milliarden Euro sollte Block 3 kosten, derzeit geht man von über acht Milliarden aus. Bild: reuters

EURAJÖKI taz | Markku Palonen stützt sich auf seine Stuhllehne und sagt: „Wir wollen dieses Zeug haben.“ Dann macht er eine dramaturgische Pause und lächelt verschmitzt. Er wird deutlich: Seine Stadt liebe die Atomkraft. Um ihn herum verdutzte Gesichter. Die Besucher aus Deutschland verstehen nicht, dass „dieses Zeug“, die nukleare Kraft, gut sein kann für das Städtchen Eurajoki, 237 Kilometer nordwestlich von Helsinki.

Palonen ist Stadtsprecher. Kantige Brille, das Hemd in die Hose gesteckt, umschmeichelt er bei Lachs und Knäckebrot die Zuhörer mit Worten über die „elektrische Gemeinde“. Es sei alles ganz schnell gegangen. Es habe kaum Diskussionen gegeben, ein paar Demonstrationen in Helsinki. Am Ende träumt Eurajoki seinen Atomtraum.

17 Kilometer weiter, das Schilf reckt sich nach der Sonne, Tannen grünen neben Ostseewasser – dazwischen schmiegen sich zwei Reaktorblöcke aus den Siebzigern, rot angemalt wie ein skandinavisches Holzhäuschen, Essen ragen auf. Daneben wächst ein dritter Reaktor, abgedeckt mit einer 200 Tonnen schweren Stahlkuppel: Olkiluoto 3, seit 2005 in Bau. 2002 hat das finnische Parlament den Bau mit 107 zu 92 Stimmen beschlossen.

In Eurajoki stimmten 21 Gemeindevertreter dafür, 6 waren dagegen. Olkiluoto 3 ist der erste Meiler, der nach der Katastrophe von Tschernobyl in Europa entsteht. Ein Sechstel der finnischen Energie liefern bereits die Blöcke 1 und 2, Nummer 3 soll noch einmal so viel leisten, 1.600 Megawatt – der leistungsfähigste Reaktor der Welt.

Das Kraftwerk: Die zwei Reaktoren von Olkiluoto liefern ein Sechstel des finnischen Stroms. Den Zuschlag für den dritten Block erhielt der französische Staatskonzern Areva mit einem neuen Reaktortyp, dem 1.600 Megawatt starken Europäischen Druckwasserreaktor (EPR). Mit 3 Milliarden Euro war ein Festpreis vereinbart.

Die Verzögerung: 2005 begann der Bau unter Leitung von Areva, Siemens liefert die konventionellen Kraftwerksteile. Von Anfang an gab es Verzögerungen. Die Kosten schossen in die Höhe. 8,5 Milliarden Euro sollen aufgelaufen sein. Areva und Siemens streiten sich deswegen mit dem finnischen Betreiber TVO. Der Konflikt wird inzwischen vor der Internationalen Handelskammer ausgetragen.

Eine Idylle mit Häuschen

Eurajoki besteht aus einer langen Hauptstraße, der Kirkkotie. Auf der einen Seite fließt der Fluss Eurajoki, auf der anderen zweigen Sträßchen ab. Am Ortseingang grüßt eine gelb-weiße Kirche, gegenüber eine Tankstelle, daneben ein Supermarkt. Vor diesem Markt drückt ein dreijähriger Junge seine Nase ans Fenster. Seine Mutter, Riikka Heino, lebt seit 2008 in Eurajoki. 34 Jahre ist sie alt, sie hat vier Kinder. Sie brauchte für die Familie ein Haus, das Grundstück in Eurajoki war günstig, direkt neben dem AKW-Betreiber TVO.

„Natürlich macht mir das Angst“, sagt die Frau, angesprochen auf die Bilder von Tschernobyl und Fukushima. Bilder von Rauchwolken, die aus geborstenem Beton aufsteigen, Bilder von Kindern mit geschwollenen Füßen und aufgedunsenen Backen. „Es ist grausam, natürlich.“ Sie blickt etwas fragend, sucht nach Worten. Mit ihren Kindern will sie über Atomkraft sprechen, dann wenn sie fragen. „Ich bin aber nicht besorgt, dass so etwas hier passiert.“ Richtig darüber nachgedacht, räumt sie ein, habe sie noch nie. „Ich habe so viele andere Dinge, über die ich nachdenken muss, mein alltägliches Leben. Und wie ich jeden Tag auf meine Kinder aufpasse.“

Stadtsprecher Markku Palonen wird wieder und wieder auf die Atomkraft angesprochen. Er redet gerne darüber. An diesem lauwarmen Abend verschenkt er eine gelbe Tasche. „Eurajoki – elektrisches Leben“ prangt darauf. Palonen schwärmt von 50.000 Besuchern, die jedes Jahr ins Städtchen kommen – Japaner, Amerikaner, Deutsche. Wie ein Rummelplatz zieht die Atomkraft die Schaulustigen ins Besucherzentrum. Achtklässler werden durchgeschleust, sacken Buttons ein, trinken Wasser, frisch gewonnen aus dem See des Kraftwerks.

Zwei Damen von Areva

Im Inneren von Olkiluoto 3 reihen sich rote Notstromaggregate wie Autobatterien aneinander, 108 Stück mit insgesamt 2.040 Volt, Notstrom für zwei Stunden. Da glänzen acht Pumpen, die den Reaktor kühlen können, ein Rütteltisch wartet auf Erdbeben, eine doppelte Hülle aus Stahlbeton soll gegen Flugzeugabstürze schützen. Zwei Frauen, entsendet vom französischen Kraftwerksbauer Areva, präsentieren das Projekt. Die eine mit akkuratem Dutt, die andere mit Perlenohrringen, führen sie wie Lehrerinnen durch die weite Welt des Reaktors. „Für alles gibt es Backups“, schwärmt die eine. „In Fukushima hatten sie keine Kontrolle“, sagt die andere. „Finnen sind pragmatisch, sie sehen die Fakten und machen sich ein Bild.“

Im Jahr 2009 sollte der Block 3 ans Netz gehen. Fünf Jahre später sind die Arbeiter immer noch im Einsatz. 3 Milliarden Euro wollte der teilstaatliche Betreiber TVO an die beiden beteiligten Unternehmen Areva und Siemens zahlen. Die Rechnung heute: 8,5 Milliarden Euro. Wer zahlt, ist unklar. Es gab schlechte Noten nach einem EU-weiten Stresstest, es gab Meldungen über Risse im Gestein. Greenpeace kritisierte 2008 Pfusch bei Schweißarbeiten. 2011 stieg Siemens aus, der Verlust: 648 Millionen Euro.

Stadtsprecher Markku Palonen sagt, er vertraue dem Bauherrn. Und die vielen Tests? Ein Zeichen von Sicherheit. Und die Reaktorkatastrophe von Fukushima? „Die hatte große Auswirkungen. Da haben die noch mal alles gecheckt.“ Palonen lehnt sich zurück. „Für Areva ist es eine tolle Schulung. Sie lernen da viel.“ Der finnische Reaktor ist eine Modellbaustelle. Einmal fertig gestellt, soll er ein Exportschlager werden, etwa nach China. Das Geld muss schließlich wieder rein kommen.

Die Stadtkasse klingelt

Ein Batzen davon lässt auch in Eurajoki die Kasse klingeln. 12,5 Millionen Euro Steuern zahlt der Betreiber jährlich – für Nummer 3 wird schon mitgezahlt. Eurajoki macht sich davon hübsch: Die Gehwege sind ausgebessert, sechs Schulen gebaut, für sechs Millionen Euro wurde eine neue Bibliothek gebaut, dazu ein Kindergarten und ein Gesundheitszentrum. „Das ist eine superzuverlässige Steuereinnahme“, schwärmt Palonen und genießt den letzten Schluck Wein.

Im finnischen Parlament sitzt Osmo Soininvaara und schiebt die Ärmel seines Sakkos hoch. Er war im Jahr 2002 Parteivorsitzender der Grünen, als der Bau von Olkiluoto 3 beschlossen wurde. Der 63-Jährige erzählt von den achtziger Jahren, in denen er „aktiv dagegen“ war. Soininvaara hat damals eine Kampagne gegen den geplanten Block Olkiluoto 3 gestartet. In seiner Heimatstadt Helsinki ist er auf Demonstrationen gegangen. Später hat er im Internet geschrieben, dass Atomkraft keine grüne Ressource ist und Atomstrom der Industrie billig verkauft wird. Es hat nichts genutzt.

Soininvaara war dann über die parlamentarische Mehrheit für den Bau des Reaktors nicht überrascht. Als Folge haben die Grünen die Regierungsbeteiligung in der „Regenbogenkoalition“ beendet. Manche waren traurig, andere wütend. Soininvaara nicht. „Wir waren zu fanatisch im Kampf gegen die Atomkraft. Es gibt noch andere wichtige Themen.“ Der Grüne ist gelassen. „Die Energiefrage ist schlecht für uns. Es ist kein großes Thema in Finnland.“

Die Mehrheit will Atomstrom

Warum haben die Argumente nicht gezogen? Die Gewerkschaften haben den Politikern Geld gegeben, wenn sie dafür stimmten. Zudem wolle die Mehrheit billigen Strom für die Metall- und Papierindustrie, sagt Soininvaara. „Die haben große Kampagnen gefahren.“

Ein anderes Argument für das Atomkraftwerk Olkiluoto bohrt sich durch Eurajokis Granitgestein, 455 Meter tief in die Erde, fünf Kilometer lang. Hier entsteht das erste Atommüll-Endlager der Welt. Onkalo heißt es, zu Deutsch: Versteck. Es bietet Platz, um 60 Jahre lang finnischen Atommüll zu lagern. 9.000 Tonnen Uran und Plutonium. Ab dem Jahr 2020 strahlen sie im Boden am Bottnischen Meerbusen, nebenan plätschert Ostseewasser. Eingepackt in Behältern aus Kupfer und Gusseisen werden die Stäbe in den Löchern der Tunnelgänge ruhen. 100.000 Jahre. Bis zur Eiszeit.

„Wir haben den Müll produziert, also müssen wir ihn entsorgen“, heißt es in Eurajoki. 1983 ging die Suche los. Olkiluoto stand nicht einmal auf der Liste der 100 geeignetsten Plätze. Doch die Stadt bewarb sich trotzdem. Ihr Argument waren die kurzen Transportwege. 2001 wurde es deshalb auch vom finnischen Parlament ausgewählt. Zwei Millionen Euro Steuern pro Jahr zahlt der neue Nachbar, der Endlagerbetreiber Posiva, ein Joint Venture aus den finnischen AKW Betreibern TVO und Fortum.

Sie haben auch das Herrenhaus geschniegelt, in dem Stadtsprecher Palonen mit seinen Gästen diniert. Ein Kronleuchter strahlt, Samtvorhänge geben den Blick auf den Gutshof frei. Posiva hat das Haus komplett renoviert. „Wir mussten nicht den besten Platz finden, sondern einen geeigneten“, heißt es von Posiva. Die Akzeptanz der Bevölkerung sei ein wichtiger Punkt. Sie konnte schließlich ihr Veto einlagen. Weil Eurajoki im Jahr 2001 sofort Ja gesagt hat, fühlt sich die Stadt jetzt wie bei einem Supersechser im Lotto: drei Reaktoren und das erste Endlager weltweit.

„Es ist schwer, gegen Atomkraft zu sein“

Einer, der dagegen war, ist Juha Jaakkola. Der 68-Jährige mit dem dunkelgrauen Haar ist zwar nicht gegen die Atomkraft, wohl aber gegen das Endlager. Als Gemeinderatschef stimmte er gegen das Endlager. Sechs stimmten mit ihm, zwanzig waren für das Endlager. „Es ist schwer, gegen die Atomkraft zu sein. Sie bringt unserem Dorf viel Gutes, schafft 600 Arbeitsplätze und über 4.000 Arbeiter zahlen Steuern“, räumt Jaakkola ein. Aber Müll, der 100.000 Jahre strahlt? Da legt sich seine Stirn in Falten. „Auf so einer kleinen Insel? Direkt am Meer?“

Er sagt das unaufgebracht, eher resigniert. Der Kommunalpolitiker ist auch Farmer. Zuckerrüben, Raps und Weizen wachsen auf seinem Boden. Bald lässt er das Gemüse wieder auf Strahlung testen. Dann nimmt er eine Handvoll Erde, packt sie in einen Beutel und schickt sie an die Teststelle. „Die sagen mir, dass das nicht strahlt. Und ich vertraue ihnen.“ Das Vertrauen in TVO und Areva, das hat er aber inzwischen verloren.

Wann der Reaktorblock 3 erstmals Strom produziert, wissen die Erbauer selbst nicht. Vielleicht 2017. Der französische Kraftwerksbauer Areva hat durch die Bauverzögerung bereits 3,85 Milliarden Euro Verlust gemacht. Der Streit um Begleichung der Verluste ist vor Gericht. In den Cafés von Eurajoki munkeln die Leute sogar über einen Baustopp. Die Kassiererin im Supermarkt, deren Mann auch auf der Baustelle arbeitet, will davon nichts wissen.

„Vor Weihnachten haben sie die ersten nach Hause geschickt“, erzählt hingegen Jaakkola. „Unser Nachbar hat Montag die Kündigung bekommen.“ Aus der Zeitung erfahre er nichts mehr. „Früher, da konnten wir noch mit denen reden.“ Am runden Tisch konnte er alle Fragen stellen. „Aber jetzt traue ich den Betreibern nicht mehr.“ Er erzählt von seinen fünf inzwischen erwachsenen Kindern und wie er vor dem Bau des dritten Reaktors beim Abendbrot über Atomkraft diskutierte. Aber heute, wo es keinen Zeitplan mehr gibt, Arbeiter entlassen werden, der teilstaatliche Betreiber die hohe Rechnung wegklagen muss, „heute sind wir alle müde, darüber zu reden.“

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