TV im Web: Befreit dieser Mann die Zuschauer?

Serien räumen die TV-Landschaft um. Videoportale schaffen neues Fernsehen. Viele reden von der Freiheit der Konsumenten. Was für eine Freiheit?

Walter White kocht in der Wüste. Bild: Arte/© Sony 2007 CPT Holdings

Da steht ein Mann in einer weißen Unterhose in der Wüste und zielt mit seiner Pistole ins nirgendwo. Der Mann trägt ein grünes Hemd, eine kastenförmige Brille und hält eine Gasmaske in der Hand. Über seine Stirn ziehen sich tiefe Furchen. Sein Gesicht sieht aus, als könnte es gleich in die Luft fliegen. Da steht ein Mann, der entweder gleich anfängt richtig laut zu heulen - oder jemanden zu erschießen.

Da steht Walter White.

So haben ihn vor einigen Jahren auch deutsche Fernsehzuschauer kennengelernt, die nicht die Download-Portale des Netzes nach den neuesten Serien aus den USA durchforsten. Dieses Foto stand in vielen Zeitungen, auf Online-Portalen, als die Serie in Deutschland bei Arte anlief. Walter White, die Hauptfigur der Serie „Breaking Bad“. Der Chemie-Lehrer mit dem Tumor in der Lunge, der als Produzent ins Geschäft mit dem Crystal Meth einsteigt, um seine Behandlung zahlen zu können, und dabei zum mordenden Drogenboss wird.

Das ist alles schon wieder eine Weile her. „Breaking Bad“ ist längst Fernsehgeschichte, sein Erfinder Vince Gilligan arbeitet an einem Nachfolger und schauspielert. Seine Serie bleibt: In all den Videoportalen, die von immer mehr Zuschauerinnen genutzt werden. Bei Netflix, der größten Online-Videothek der Welt. Bei Amazon, dem Konkurrenten. Oder bei Maxdome und Watchever, den deutschen Netflix-Pendants.

Von wegen 20.15 Uhr: Das Fernsehen, so wie wir es kannten, ist tot. Wie zwei Unterhaltungsprofis versuchen, es wiederauferstehen zu lassen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 26./27. April 2014. Außerdem: Warum Leipzig das neue Berlin ist. Wie zwei Schulen in der Sexualmedizin um den Umgang mit Transsexuellen kämpfen. Und: Preisgekrönte Fotos von ägyptischen Bodybuildern und ihren Müttern. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

"Das Publikum will die Kontrolle"

Vielleicht ist es sogar so: Diese Portale werden immer mächtiger, ihr Einfluss immer größer, weil es „Breaking Bad“ gab. Weil es diverse andere Serien gibt, die ähnlich funktionieren. Mit Helden, die so faszinierend abstoßend sind, mit Plots, bei denen fast jede Episode auf eine Frage endet: Und jetzt?

Der neue Walter White heißt Frank Underwood. Ein Kongressabgeordneter in Washington, der in der Serie „House of Cards“ mit aller Macht ins Weiße Haus will. Von ethisch-moralischen Grenzen oder anderen Menschen lässt er sich nicht aufhalten.

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„Breaking Bad“ und „House of Cards“ stehen für eine neue Art von Fernsehen, das von der Macht und der Freiheit der Zuschauer geprägt ist. So würde das zumindest Kevin Spacey formulieren, der diesen Frank Underwood spielt. Beim Filmfestival in Edinburgh hat er in einer oft zitierten Rede gesagt: „Das Publikum will die Kontrolle. Es will die Freiheit.“

Es klang ein wenig so, als ginge es um die Verteidigung amerikanischer Verfassungswerte und nicht um ein neues Geschäftsmodell der Unterhaltungsindustrie.

Gesellschaftlich akzeptiertes Überfressen

Als vor einigen Wochen die zweite Staffel von „House of Cards“ komplett auf der Plattform Netflix veröffentlicht wurde, haben manche sich zu Hause vor den Rechner, das iPad oder den Fernseher gesetzt und nächtelang alle neuen Episoden auf einmal gesehen. „Binge viewing“ nennt man das in den USA. Wie „binge drinking“, wenn man sich mit Alkohol abschießt. Oder „binge eating“. Das Überfressen.

Dieses „binge viewing“ hat allerdings gar keinen wirklichen gesellschaftlichen Makel wie das Abhängen der TV-Couchpotato, die traditionell als eher Unterschicht gilt. Es mag nach Überfressen mit Chips und Pommes klingen, aber man kann mittlerweile ganz gut damit angeben, in wenigen Tagen die ganze Staffel einer Serie aufgesogen zu haben. „Es birgt schon eine gewisse Ironie, dass Fernsehserien ausgerechnet zu einer Zeit an Ansehen gewinnen, da sich das Fernsehen als Medium zunehmend in Frage gestellt sieht“, schrieb die FAZ einmal über „Breaking Bad“. Die Serie, die über die Jahre immer beliebter wurde, weil nach jeder neuen Staffel mehr Menschen in den Online-Videotheken die alten Episoden entdeckten.

„Gebt den Leuten, was sie wollen, wann sie es wollen und in der Form, in der sie es wollen – zu einem vernünftigen Preis“, rief Kevin Spacey in Edinburgh. „Und sie werden eher dafür bezahlen, statt es zu stehlen.“

Die Filmindustrie hofft auf die neuen Serien und ihre Reputation. Videoplattformen wie Netflix oder Amazon sind selbst zu Produzenten geworden. „House of Cards“ hat Netflix finanziert und eingekauft, ohne einen Piloten zu testen, wie es Kabelsender tun, bevor sie sich auf ein so teures Projekt einlassen. Für Netflix hat sich das gelohnt. Allein im ersten Quartal dieses Jahres, hat der Konzern gerade gemeldet, habe man vier Millionen neue Nutzerinnen gewonnen. Das Unternehmen hat mit 48 Millionen Nutzerinnen längst HBO überholt, einen klassischen Kabelfernsehsender, auf dem das Mafia-Epos „Sopranos“ lief, das als einer der Ursprünge, dieser Seriensucht gilt. Oder „Curb Your Enthusiasm“, die Serien-Comedy mit dem schratigen Seinfeld-Erfinder Larry David.

Die Videoplattformen stellen mit Hilfe der Serien infrage, was Fernsehen ist. Sie definieren es neu. Es ist nichts mehr, was man sich vorsetzen lassen muss. Man kann sich sein Fernsehen selbst holen. Bei Netflix etwa.

Ist Berieselung nicht auch ganz entspannend?

In der Titelgeschichte der taz.am wochenende vom 26./27. April 2014 stellen wir zwei Männer vor, die an dieser neuen Art von Fernsehen arbeiten. Einer der beiden ist Stefan Schulz. Der Chef der Videoplattform-Watchever, die sich gerade darauf vorbereitet, dass Netflix im Herbst nach Deutschland kommen dürfte. Der andere ist Florian Hager. Ein Programmdirektor beim Kultursender arte, der ein Fernsehen schaffen will, das nicht nur zu festen Zeiten im Wohnzimmer funktioniert.

Bringt diese neue Art fernzusehen tatsächlich mehr Freiheit?

Und: Sind die Zuschauer wirklich bereit, viel mehr auszuwählen und die Fernbedienung selbst in die Hand zu nehmen, statt sich berieseln zu lassen und mal zu sehen, was so kommt? Ist Berieselung nicht auch manchmal entspannend?

Weil Videoportale wie Netflix ihre Zuschauer binden müssen, errechnen sie sehr genau deren Sehgewohnheiten und setzen ihnen vor allem Filme und Serien vor, von denen sie hoffen, dass die Zuschauer sie mögen. Netflix hat dafür ein unglaublich verzweigtes Kategorien-System geschaffen, mit dem das Angebot perfektioniert werden soll. Alexis Madrigal hat es für „The Atlantic“ entschlüsselt. „Critically-acclaimed Emotional Underdog Movies“ oder „Cult Evil Kid Horror Movies“ heißen solche Kategorien. Auch der deutsche Konkurrent Watchever hat solche Kategorien einmal ausprobiert. Drogeninspiriertes Kultkino etwa. Dort scheinen Labels wie „spektakulärer Animationsfilm“ aber besser angenommen zu werden.

Zufallsfunde gekillt

Die Personalisierung der Videoportale allerdings, das zeigt Ethan Zuckerman in seinem neuen Buch „Rewire“, ist so sehr darauf ausgerichtet, möglichst viele Treffer zu liefern, also Serien oder Filme, die man irgendwie mag, dass es kaum noch Zufallsfunde gibt. Man ist gerade fast schon vor dem Fernseher eingedämmert. Da beginnt plötzlich eine seltsame Dokumentation über das Leben ostafrikanischer Bergziegen, die man begeistert zuende sieht, aber niemals selbst ausgewählt hätte. So etwas passiert bei Netflix nicht.

Die Freiheit kann also langfristig auch in eine eher langweilige Berechenbarkeit ausarten, in eine Art audiovisueller Filterblase. Wir sehen nur noch, was uns Maxdome, Watchever oder Amazon vorsetzen. Der Horizont wird immer enger.

Ist es jetzt zu früh, schon über solche langfristigen Auswirkungen zu spekulieren? Sollte man die Freiheit als Zuschauer erst einmal genießen? Den neuen Wettbewerb um die besten Serienstoffe? Oder schalten Sie abends ein, um abzuschalten, und wollen nicht auch noch aufwändigst irgendwas auswählen?

Diskutieren Sie mit!

Die Titelgeschichte „Wir glotzen weiter“ von Johannes Gernert und Jürn Kruse lesen Sie in der taz. am wochenende vom 26./27. April 2014.

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