Chronik zur Vorratsdatenspeicherung: Kampf um das Privatleben

Der Europäische Gerichtshof kippt die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Diese sorgt seit Jahren für Streit – auf EU-Ebene und in der deutschen Politik.

Die Zeit ist eine andere, die Botschaft dieselbe: Aufruf gegen die geplante Volkszählung im Mai 1987 Bild: dpa

Berlin taz | Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden: Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung ist nicht mit EU-Recht vereinbar. Das Thema hat in den vergangenen Jahren für viel Wirbel gesorgt. Die Debatte geht aber zurück bis ins Jahr 1983. Damals entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Menschen das Recht haben, über ihre Daten selbst zu bestimmen. Seitdem hat sich viel getan.

Dezember 1983 - Datenschutz:

Das Bundesverfassungsgericht erlässt das richtungsweisende „Volkszählungsurteil“. Darin wird Datenschutz erstmals als Grundrecht anerkannt. Der Bürger habe ein Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, die Datensammlung mit moderner Informationstechnik sei für die Betroffenen unbeherrschbar. Deswegen würden Menschen aus Vorsicht ihr Verhalten ändern. Laut diesem Urteil muss jede Datenerhebung durch ein Gesetz geregelt sein. Eine Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat und zu unbestimmten Zwecken schließt das Gericht aus. Anlass war eine für 1983 geplante Volkszählung, die aufgrund des Urteils erst 1987 stattfand.

Juli 2002 - Privatsphäre im Netz:

L:2002:201:0037:0047:de:PDF:In einer Richtlinie verpflichten das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Mitgliedsstaaten zum Schutz der Privatsphäre auch im Bereich der elektronischen Kommunikation. Verkehrs- und Standortdaten müssten von Netzbetreibern gelöscht oder anonymisiert werden, sobald sie nicht mehr benötigt werden. Ausnahmen – etwa zum Erhalt der öffentlichen Ordnung – müssten „notwendig, angemessen und verhältnismäßig“ sein.

Juli 2005 - Angst vor Terrorismus:

Bisher setzte die EU auf Datenschutz. Die Diskussion über den internationalen Terrorismus ändert das. Bei Anschlägen in Madrid 2004 und in London 2005 kommen etliche Menschen ums Leben. Der Europäische Rat verurteilt die Anschläge und betont, die EU müsse so schnell wie möglich gemeinsame Maßnahmen zur Vorratsdatenspeicherung erlassen. Dies wurde im März 2004 schon einmal in einer Erklärung zum Kampf gegen den Terrorismus angesprochen.

März 2006 - EU beschließt Vorratsdatenspeicherung:

Das Europäische Parlament und der Rat beschließen die Vorratsdatenspeicherung 32006L0024:DE:HTML:in einer neuen Richtlinie. Laut dieser müssen die nationalen Gesetzgeber Telekommunikationsunternehmen zur mehrmonatigen Speicherung sämtlicher Verbindungsdaten verpflichten. Die Daten sollen zur „Ermittlung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten“ zur Verfügung stehen. Ein besonderer Anlass für die Speicherung – etwa einen Verdachtsfall – ist dabei nicht nötig. Die Daten sollen mindestens sechs Monate und höchstens zwei Jahre gespeichert werden. Genau diese Richtlinie ist es, die der EuGH nun für unrechtmäßig befunden hat.

Januar 2008 - deutsche Umsetzung:

Deutschland setzt die Richtlinie der EU mit dem „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen“ um. Deutsche Telekommunikations- und Internetanbieter müssen nun Verkehrs- und Standortdaten sechs Monate auf Vorrat speichern und sie den Strafverfolgungsbehörden zugänglich machen. Ab 2009 sollen zusätzlich die Internet-Provider registrieren, wer wem wann eine E-Mail schreibt und wer mit welcher IP-Adresse ins Netz geht. Die Inhalte der Gespräche, Mails und angesehenen Webseiten sollen nicht gespeichert werden.

Die schwarz-rote Bundestagsmehrheit beschließt das von Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) vorgelegte Gesetzespaket. FDP, Linke und Grüne lehnen es ab. Verschiedene FDP-Politiker und Bürgerrechtler reichen Klage ein. Der AK Vorrat reicht Ende Februar außerdem die Klagen von 34.000 Bürgern nach – die bis dahin größte Verfassungsbeschwerde aller Zeiten.

März 2010 - Gesetz unrechtmäßig:

Das Bundesverfassungsgericht erklärt das Gesetz für //www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20100302_1bvr025608.html:unvereinbar mit dem Grundgesetz. Die Vorratsdatenspeicherung befördere das Gefühl des „unkontrollierbaren Beobachtetwerdens“ und habe somit „nachhaltige Einschüchterungseffekte auf die Freiheitswahrnehmung.“ Für die Speicherung zu Zwecken der Strafverfolgung müsse ein begründeter Verdacht vorliegen. Die Daten müssten auch weiterhin dezentral bei den Firmen gespeichert werden und nicht zentral beim Staat. Das Gesetz sei jedoch – anders, als von Kritikern vorgebracht – nicht „schlichtweg unvereinbar“ mit Artikel 10 des Grundgesetzes. Dieser garantiert die Unverletzlichkeit von Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis. Eine Anpassung des Gesetzestextes sei also möglich.

In den folgenden Monaten kommt es wegen des Urteils zum Koalitionskrach: Während die CDU/CSU verlangt, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) solle schnellstmöglich einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Vorratsspeicherung vorlegen, lehnt die die anlasslose Massenspeicherung von Bürgerdaten strikt ab.

Mai 2012 - EU verklagt Deutschland:

Die EU-Kommission verklagt Deutschland beim EuGH, weil die Regierung in Berlin die EU-Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt hat. Fristende war September 2007. Durch das Urteil des Verfassungsgerichtes 2010 und den Streit zu dem Thema zwischen CDU/CSU und FDP wurde noch kein neues Gesetz verabschiedet. Die Brüsseler Behörde fordert in ihrer Klageschrift ein tägliches Bußgeld von über 315.000 Euro ab dem Tag der Urteilsverkündung bis zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht. Die Regierung weist Versäumnisse zurück.

Dezember 2013 - GroKo beschließt Vorratsdatenspeicherung:

Die Große Koalition beschließt die Umsetzung der EU-Richtlinie im Koalitionsvertrag. Die Vereinbarung sieht vor, dass ein „Zugriff auf die gespeicherten Daten nur bei schweren Straftaten und nach Genehmigung durch einen Richter so wie zur Abwehr akuter Gefahren für Leib und Leben erfolgen“ darf. Die SPD ist eigentlich gegen Vorratsdatenspeicherung, geht den Kompromiss aber ein. Dafür fordert sie, die Speicherdauer auf drei Monate zu reduzieren.

Generalanwalt Pedro Cruz Villalón fordert den Europäischen Gerichtshof auf, die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für rechtswidrig zu erklären. Sie sei mit der Charta der EU-Grundrechte unvereinbar. Auch sei die Forderung, gesammelte Daten sollten zur Aufklärung und Verhütung „schwerer Straftaten“ beitragen, zu unpräzise. Statt dessen hätten konkrete Straftatbestände aufgezählt werden sollen. Außerdem müsste geregelt werden, dass nicht mehr benötigte Daten gelöscht und Betroffene über eine Abfrage ihrer Daten informiert werden. Auch Villalón stellt nicht die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung an sich in Frage.

Nach der Forderung Villalóns verkündet Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), die Vorratsdatenspeicherung zunächst nicht einführen zu wollen. Er wolle statt dessen das Urteil des EuGH abwarten. Wenn das Gericht der Richtlinie eine Absage erteile, sei die „Geschäftsgrundlage für den Koalitionsvertrag komplett entfallen“, sagte Maas. „Dann müssten wir über die Vorratsdatenspeicherung ganz neu reden. Bis dahin liegt das Instrument für mich auf Eis.“

Der EuGH befindet, dass die Speicherung von Kommunikationsdaten ohne Verdacht auf Straftaten nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Die Regelung „beinhaltet einen Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten, der sich nicht auf das absolut Notwendige beschränkt.“ Das Gericht kippt mit diesem Urteil die EU-Richtlinie zur Sicherung von Telefon- und Email-Informationen.

Jetzt beginnt die Deutungsschlacht. Eigentlich wollten Maas und Innenminister Thomas de Maiziere (CDU) direkt nach dem Urteil einen Gesetzentwurf vorlegen. Das sieht jetzt anders aus. Während de Maiziere weiterhin eine „rasche, kluge, verfassungsgemäße und mehrheitsfähige Einigung“ fordert, blockt Maas weitere Schritte vorerst ab. Mit dem Urteil sei die „Grundlage für die Vereinbarung im Koalitionsvertrag“ entfallen. „Deutschland ist nicht mehr zu einer Umsetzung der Richtlinie verpflichtet.“ Auch Strafzahlungen an die EU drohten nun nicht mehr.

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