Die Verbündete

Die Kandidatin sagt, dass sie „auch für die Arbeiter“ regieren will, und stellt ihr Maßnahmenpaket vor„Ich weiß schon, was ich zu tun habe“, sagt sie jenen, die sie zum x-ten Mal nach ihrer Wahlstrategie fragen

AUS SANTIAGO DE CHILEGERHARD DILGER

Das Traditionskino „Normandie“ im Zentrum von Santiago ist bis auf den letzten Platz besetzt. Gespannt warten die Gewerkschafter auf den Auftritt Michelle Bachelets. Als die Frau mit dem rotblonden Haar, begleitet von Mitarbeitern und Kameraleuten, das Podium erklimmt, ertönen Sprechchöre: „Se siente, se siente, Michelle es presidenta“ – Man spürt es, Michelle ist Präsidentin.

Aller Voraussicht nach wird Michelle Bachelet am Sonntag tatsächlich Chiles neue Präsidentin. Und deshalb stellen ihre Zuhörer hier im „Normandie“ gleich klar, was sie von der 54-jährigen Politikerin der Sozialistischen Partei (PS) erwarten. „Wir sind die Unzufriedenen, die, zu denen die sozialen Wohltaten nicht durchgedrungen sind, die, die noch immer auf ein gerechteres Chile warten“, sagen zwei Männer.

Dann spricht der Gewerkschaftsführer Arturo Martínez. Auch er, ein Parteifreund Bachelets, nimmt kein Blatt vor den Mund. In Chile herrsche ein „wildes Modell, in dem die Menschen nicht zählen“, sagt er. Siebzig Prozent der Arbeiter seien von Subunternehmen angestellt, ohne ein Recht auf Urlaub oder Abfindungen, 57 Prozent seien vom Rentensystem nicht erfasst. „Chile ist das Land der Ängste. Der Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, von Schulden erdrückt zu werden, die Ausbildung der Kinder nicht bezahlen zu können, das Alter in Armut zu verbringen. Dieses Modell haben wir von der Diktatur geerbt“, sagt der Veteran, der während des Regimes von Augusto Pinochet von 1973 bis 1990 mehrfach in Haft war.

Michelle Bachelet macht sich konzentriert Notizen. Heute, wenige Stunden vor einem Auftritt aller Präsidentschaftskandidaten beim Unternehmerverband, wolle sie ein Zeichen setzen, dass sie „auch für die Arbeiter“ regieren wolle, sagt sie. Und dann stellt sie ein ganzes Maßnahmenpaket vor, mit dem sie – wenn sie gewählt wird – die soziale Ungleichheit bekämpfen will: von einer „großen Rentenreform“ ist die Rede, Zuschüssen für Hortplätze für die Kinder berufstätiger Mütter, vom Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, der Förderung von Kleinbetrieben. Die Frau mit der randlosen Brille, klein und mit fester Stimme, verzichtet auf Pathos. Gegen die „Asymmetrie der Macht“ schlägt sie einen „sozialen Dialog, einen Sozialpakt“ vor. Bis 2010 sollen eine Million neuer Arbeitsplätze entstehen, „aber nicht irgendwelche, sondern würdige, anständige“.

Ähnliches versprechen auch ihre drei Mitbewerber um das Präsidentenamt. Doch die Chilenen, das zeigen die Umfragen, trauen Bachelet am ehesten zu, den erhofften „zweiten Übergang“ Chiles einzuleiten – zu einer wirklich sozialen Demokratie.

Dass in Bachelet so viel Vertrauen gesetzt wird, hat mit ihrer guten Arbeit als Gesundheits- und als Verteidigungsministerin unter dem amtierenden Präsidenten Ricardo Lagos zu tun. Und mit ihren medienwirksamen Auftritten. Als vor drei Jahren die Armee nach einer Überschwemmung in Santiagos Armenvierteln half, war Bachelet dabei: Auf einem Panzer rollte sie ins Krisengebiet. Das Bild machte Furore, seitdem ist sie ein Star.

Am meisten jedoch dürfte ihre Biografie ins Gewicht fallen: „Sie verkörpert das Drama unseres Landes“, sagt die Meinungsforscherin Marta Lagos, „aber auch die Fähigkeit, sich neu zu erfinden“. Bachelets Vater, ein General der Luftwaffe, stand bis zuletzt loyal zum sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Deshalb wurde er gleich nach dem Putsch im September 1973 verhaftet, ein halbes Jahr später starb er an den Folgen der Folter. Im Januar 1975 verhafteten Geheimpolizisten die Sozialistin Bachelet und ihre Mutter Ángela. Beide waren im Widerstand aktiv.

In der berüchtigten Folterzentrale Villa Grimaldi wurden sie mehr als zwei Wochen festgehalten. „Ja, sie haben mich gefoltert“, sagt Bachelet heute. „Sie haben mich geschlagen. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was andere durchmachen mussten.“ In der Haft kümmerte sich die Medizinstudentin um vergewaltigte und gefolterte Mitgefangene, „tapfere, aber gebrochene Frauen“, sagt sie.

Dass Mutter und Tochter nicht wie mehr als zweihundert andere Opfer in der Villa Grimaldi spurlos „verschwunden“ sind, haben sie wahrscheinlich einem Telefonanruf während ihrer Festnahme zu verdanken: Durch einen zuvor verabredeten Satz informierte Bachelet ihren Freund Jaime López. Daraufhin setzten Verwandte und Kollegen ihres Vaters alles in Bewegung, um die Frauen aus den Händen der Folterer zu befreien. Mit Erfolg.

Michelle und ihre Mutter gingen ins erzwungene Exil. Im Mai 1975 kamen sie in die DDR, wo sich die Führung der PS niedergelassen hatte. Bachelet engagierte sich dort in der Solidaritätsarbeit. López, der sie nach Berlin gelotst hatte, kehrte auf ihr Drängen hin nach Chile zurück und wurde dort offenbar zum Informanten der Geheimpolizei. Monate später verlor sich seine Spur in der Villa Grimaldi.

Nach den traumatischen Erfahrung in Chile studierte die junge Sozialistin erst einmal Deutsch in Leipzig und Medizin an der Humboldt-Universität in Berlin, auch, um nicht Berufspolitikerin werden zu müssen. „Sie nahm an vielen unserer Aktionen teil“, erinnert sich ein Weggefährte, „aber sie war zurückhaltend, keine Führungsfigur“. Anders als viele ihrer Genossen durchlief sie auch keine der kommunistischen Kaderschmieden.

In Potsdam heiratete sie den Architekturstudenten Jorge Dávalos, 1978 kam ihr Sohn zur Welt. Als Bachelet im vergangenen Jahr in Chile Margot Honecker kennen lernte, bedankte sie sich für die damalige Hilfe der DDR-Führung. „Es war ein bescheidenes, aber angenehmes Leben“, erinnert sich ihre Mutter.

1979 kehrten die Frauen nach Chile zurück. Michelle Bachelet schloss ihr Studium ab und wurde anschließend Kinderärztin. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter nahm sie ihre politische Arbeit wieder auf und verfasste für die PS Analysen über die Armee. Der Parteiflügel, dem sie nahe stand, befürwortete den bewaffneten Kampf gegen das Pinochet-Regime, ebenso ihr damaliger Freund, der Mitglied der kommunistischen FPMR-Guerilla war.

Als diese Episode vor Monaten wieder einmal zur Affäre hochgeschrieben wurde, reagierte Bachelet genervt: „Wie lange wollen die sich noch für mein Privatleben von vor zwanzig Jahren interessieren?“ Dass der Vater ihrer jüngsten Tochter, mit dem sie fünf Jahre zusammengelebt hatte, ein Konservativer ist, schien niemanden so sehr zu interessieren. „Dabei zeigt das doch, wie demokratisch ich bin“, sagt sie mit dem für sie typischen Humor.

In den Neunzigerjahren durfte die Ärztin Bachelet endlich im öffentlichen Gesundheitswesen arbeiten. 1995 stieg sie in die PS-Parteiführung auf und beschäftigte sich dort vor allem mit Fragen der Militärpolitik. Mit Erfolg: Nach zwei glänzend absolvierten Kursen in Santiago de Chile und Washington wurde sie Beraterin des Verteidigungsministeriums.

„Ich bin Frau, Sozialistin, Opfer der Diktatur, Agnostikerin und lebe getrennt“, fasste sie bei ihrem Amtsantritt als Ministerin die Vorbehalte der Generäle zusammen, „aber wir werden gut zusammenarbeiten“. Geduldig trieb sie die mühsame „Wiederbegegnung“ zwischen Militärs und Zivilisten voran, hielt ihre Untergebenen aber auch mit einer teuren Teilaufrüstung bei Laune – kein anderes lateinamerikanisches Land gibt so viel Geld für das Militär aus wie Chile.

Im Gegenzug räumte Heereschef Juan Emilio Cheyre vor einem Jahr die Verantwortung des chilenischen Militärs an den Menschenrechtsverletzungen unter Pinochet ein. In dieser Zeit wurden 3.000 Menschen ermordet, zehntausende gefoltert und hunderttausende ins Exil getrieben. Als Präsidentin möchte Michelle Bachelet noch einen Schritt weitergehen und „die Chilenen auf den Weg der Versöhnung führen“, ein Plan, den sie noch vor Jahren für undurchführbar hielt. Bachelet pflegt einen kooperativen Politikstil, sie kann ihrem Gesprächspartner auf Anhieb das Gefühl echter Anteilnahme vermitteln. Doch sie stellt gleich klar: „Es geht nicht um Sympathie, sondern um Vertrauen.“ Aus ihrer Zeit im Widerstand gegen Pinochet ist ihr allerdings auch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber vermeintlichen politischen Freunden geblieben, die Angst vor dem Verrat.

Als Ministerin im Kabinett Lagos agierte sie pflichtbewusst, detailversessen, führungsstark. „Ich weiß schon, was ich zu tun habe“, sagt sie bestimmt, als sie zum hundertsten Mal nach ihrer Wahlkampfstrategie für die Stichwahl im Januar gefragt wird. Vor allem die Männer aus dem eigenen Lager erteilen ihr täglich über die Presse gute Ratschläge. Die Tageszeitung La Tercera zum Beispiel schwadronierte gerade darüber, mit dem nahenden Wahltermin würden die Kriterien der Wählerschaft „rationaler“, der „Faktor Frau“ drohe plötzlich zum Nachteil zu werden. Und mit beträchtlichem medialen Echo sprach ihr ihr stärkster Gegner, Sebastián Piñera, Kompetenz und Führungsqualitäten ab.

„Natürlich sind noch nicht alle bereit, für eine Frau zu stimmen“, weiß Michelle Bachelet. Doch anders als Angela Merkel redet sie gerne von den Vorteilen, die eine „andere Perspektive“ auch in der Politik mit sich bringe. Sie verspricht Transparenz statt Parteienklüngel: „Ich weiß, wie wichtig es ist, große Ideen konkret, praktisch, lebensnah umzusetzen. Die Apachen hatten immer auch eine Frau in ihrem Ältestenrat, denn sie sagten, wir Frauen sehen Dinge, die die Männer nicht sehen.“

Als sie ihre Rede im spärlich beleuchteten Kinosaal beendet hat, braust Beifall auf. Die anfängliche Skepsis scheint verflogen. Dutzende Männer und Frauen drängen aufs Podium, um sich mit der Kandidatin fotografieren zu lassen. Michelle Bachelet stehen in diesem Moment die Strapazen des monatelangen Wahlkampfs ins Gesicht geschrieben. Dann macht sie lächelnd das Handzeichen für ihre Wahlliste 2: zwei Finger – ein V wie „Victoria“.